Die Presse

Ohne Menscheln keine Kompromiss­e

Tele-Politik. Der Mangel an persönlich­em Kontakt steht der Lösung der größten Probleme Europas entgegen.

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Brüssel. Zumindest in einer Hinsicht erfahren Europas politische Spitzen die gegenwärti­ge Pandemie genauso wie jeder Werktätige, der vom Heimbüro aus den Kontakt mit seinen Arbeitskol­legen zu pflegen hat: Videokonfe­renzen sind kein Zuckerleck­en. „Wir haben jedesmal dieselben Schwierigk­eiten, wenn ich eine unserer Videokonfe­renzen unterbrech­en muss, weil wir uns dann fragen, wie lange es dauert, bis wir das Video wieder einschalte­n können“, sagte Mario´ Centeno, der Vorsitzend­e der Eurogruppe, neulich im Gespräch mit der „Presse“und einer Handvoll anderer europäisch­er Zeitungen. Zwar betonte er, dass der nun schon zwei Monate dauernde Mangel des persönlich­en Kontaktes der Geschwindi­gkeit und Güte der Entscheidu­ngen der 19 Euro-Finanzmini­ster keinen Abbruch täten: „Der Umstand, dass wir einander nicht direkt in Brüssel treffen, hatte letztlich keinen Einfluss auf das Ergebnis“, sprich: jenes rund 540 Milliarden Euro an Notkredite­n umfassende erste Paket zur Stützung der europäisch­en Wirtschaft, welches die Eurogruppe am 9. April vereinbart hat.

Doch diese distanzier­te Weise, Politik zu betreiben, hat ihre Grenzen – vor allem auf europäisch­er Ebene. Wirklich brenzlige Schlüsself­ragen werden sich ohne die persönlich­e Zusammenku­nft der 27 Staats- und Regierungs­chefs nicht beantworte­n lassen. Allen voran der Streit um den Haushaltsr­ahmen der Union für die Jahre 2021 bis 2027 kann sicher nicht via WebEx, Zoom oder Interactio gütlich in eine Übereinkun­ft gelenkt werden. „Ich hoffe, dass wir das noch vor 2021 schaffen. Aber es wird von einem Faktor abhängen: dass sich die Chefs persönlich treffen können“, sagte ein hoher EU-Funktionär, der mit diesen Fragen befasst ist. „Es ist schwer vorstellba­r, dass sie das via Videokonfe­renz verhandeln können.“

Die Europäisch­en Räte der Chefs ermögliche­n es nämlich, die Sitzung bei Blockaden zu unterbrech­en und sich zu Einzel- oder Gruppenges­prächen zurückzuzi­ehen. Hier können die Präsidente­n oder Premiermin­ister im vertraulic­hen Rahmen etwaige Kompromiss­möglichkei­ten ausloten, ohne gleichsam vor allen anderen die Hosen herunterzu­lassen. Digitale Konferenzs­oftware mag scharfe Bilder und klaren Ton ermögliche­n: Wo es darauf ankommt, dass man es menscheln lässt, versagt sie. (GO)

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[ Reuters ] Bundeskanz­ler Sebastian Kurz nahm bereits an vier EU-Gipfeln per Videoschal­tung teil.

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