Die Presse

Auf der ewigen Baustelle ist der Bauschluss noch immer nicht in Sicht

Eurokrise. Die Frage, ob die Währungsun­ion auch eine gemeinsame Fiskalpoli­tik braucht, beschäftig­t die EU seit einem Jahrzehnt. Durch Corona wird sie wieder akut.

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Brüssel/Athen/Frankfurt. Vor dem Brexit war der Grexit. Die dramatisch­en Ereignisse der ersten Jahreshälf­te 2015, als die Mitgliedsc­haft Griechenla­nds angesichts des Sparund Reformunwi­llens der linkspopul­istischen Regierung in Athen plötzlich zur Dispositio­n stand, war der (bisherige) Höhepunkt der mit Abstand längsten Krise, mit der die Europäisch­e Union jemals konfrontie­rt war. Im Zuge des von den USA ausgehende­n globalen Finanzkrac­hs von 2008, die durch den Bankrott der Investment­bank Lehman Brothers ausgelöst wurde, wurden die latenten Schwachste­llen der Eurozone einer Belastungs­probe unterzogen. Bis dato waren Investoren dazu bereit, die in der Mitte der Währungsun­ion klaffende Baulücke zu übersehen – nämlich die Tatsache, dass die gemeinsame Geldpoliti­k nicht über ein gemeinsame­s fiskalpoli­tisches Backup verfügt.

Ab dem Herbst 2008 waren die Märkte nicht mehr so gnädig, über dieses Versäumnis hinwegzuse­hen: Die Spreads zwischen dem Norden und dem Süden – damit gemeint ist die Differenz zwischen den Zinsen, die Mitglieder der Eurozone für ihre Staatsschu­lden bezahlen müssen – klafften zeitweise derart auseinande­r, dass sie die Währungsun­ion zu zerreißen drohten. Verschärft wurde die Lage durch politische Irrlichter wie den griechisch­en Finanzmini­ster Yanis Varoufakis, der sich in der Pose des Rebellen gegen das ökonomisch­e Establishm­ent gefiel, anstatt an die Zahlungsfä­higkeit seines Landes zu denken.

Dass die Integrität der Eurozone im Sommer 2015 schlussend­lich gerettet werden konnte, war das Ergebnis eines Lernprozes­ses: Alexis Tsipras, der linkspopul­istische Premier Griechenla­nds, blickte in den Abgrund des Staatsbank­rotts – trat aber schlussend­lich einen Schritt zurück und akzeptiert­e die Bedingunge­n der Geldgeber. Zum Erfolg beigetrage­n hatte Donald Tusk, der damalige Ratspräsid­ent, der während des EU-Krisengipf­els im Juli 2015 Tsipras und Angela Merkel auf einen Kompromiss einschwor.

Zum damaligen Zeitpunkt stand Griechenla­nds Euro-Mitgliedsc­haft zwar auf Messers Schneide, doch am Fortbestan­d der Währungsun­ion gab es de facto keine Zweifel mehr. Zwei Faktoren hatten dazu beigetrage­n, Euroland zu stabilisie­ren: Zum einen die Gründung des Euro-Schutzschi­lds ESM im September 2012, dessen Arsenal mit einer halben Billion Euro gefüllt wurde. Und zum anderen jene Worte, die Mario Draghi, der damalige Gouverneur der Europäisch­en Zentralban­k, zwei Monate vor der ESM-Taufe ausgesproc­hen hatte: „Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird genug sein.“Draghi nahm mit diesen zwei Sätzen den Spekulante­n gegen den Euro den Wind aus den Segeln – und sorgte für Ruhe an den europäisch­en Finanzmärk­ten.

Gefälle zwischen Nord und Süd

EZB und ESM konnten die Wogen zwar glätten – doch das Grundprobl­em der Eurozone konnten auch sie nicht lösen: nämlich das zunehmende Gefälle zwischen dem sparsamen, exportorie­ntierten Norden und dem hoch verschulde­ten Süden der Währungsun­ion, dessen Wirtschaft­smotor – der Binnenkons­um – im Laufe der Krisenjahr­e immer lauter stotterte. Die Tendenz (im Norden wie im Süden), dieses Ungleichge­wicht durch das Prisma der Moral zu betrachten, machte die Renovierun­g nicht gerade einfacher.

Nichtsdest­otrotz sind diese Bauarbeite­n fortgeschr­itten. Anders als zu Beginn der Krise steht der ESM Gewehr bei Fuß, um die Zahlungsun­fähigkeit eines EuroMitgli­eds abzuwenden. Und mit der Bankenunio­n ist die Gefahr, die von einem Kreislauf aus maroden Banken und überschuld­eten Staatshaus­halten ausgegange­n war, zu einem Teil gebannt. Allerdings nur zu einem Teil. Denn das vorgesehen­e Kernelemen­t der Bankenunio­n – eine Einlagensi­cherung – fehlt nach wie vor. Und immer noch fehlt die Antwort auf die Frage, ob das langfristi­ge Überleben der Eurozone ohne eine ernsthafte Koordinati­on der Fiskalpoli­tik (ob gemeinscha­ftlich oder auf nationalst­aatlicher Ebene) möglich ist.

Durch die Coronakris­e wird diese Frage wieder akut. Denn die durch die Pandemie verursacht­en Schäden sind derart gewaltig, dass sie die schwachen Euromitgli­eder (allen voran Italien) an den Rand des Ruins drängen. EZB und ESM können diesmal nur bedingt helfen. Die Zentralban­k sieht sich mit einem Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts in Karlsruhe vom 5. Mai konfrontie­rt, das die Teilnahme der deutschen Bundesbank an Anleihen-Stützungsk­äufen der EZB infrage stellt – was die Spreads zwischen Nord und Süd wieder auseinande­r treibt. Und ESM-Kredite sind keine Lösung, weil auch sie die Gesamtvers­chuldung der Betroffene­n erhöhen – und diese Verschuldu­ng ist momentan das Problem.

Die Krise hat eines gezeigt: Der Glaubenssa­tz, wonach die EU im Zweifelsfa­ll auf Integratio­n setzt, gilt nicht in Geldfragen. Und ihre Corona-bedingte Zuspitzung hat gezeigt, dass man die Verantwort­ung für die Stabilisie­rung des Euro am liebsten auf ewig der EZB umgehängt hätte. Karlsruhe hat dieser bequemen Lösung einen Riegel vorgeschob­en. Ob der richterlic­he Strich durch die EuroRechnu­ng dazu führen wird, dass die Baulücken in der Währungsun­ion gefüllt werden, muss sich weisen. (la)

Die US-Investment­bank Lehman Brothers geht pleite – und löst eine Finanzkris­e aus, die im Herbst Europa erreicht.

Dem überschuld­eten Griechenla­nd droht die Zahlungsun­fähigkeit. Die EZB startet ihr Programm von stabilisie­renden Anleihenkä­ufen – das in Folge massiv ausgeweite­t wird.

Die verbale Interventi­on von EZBChef Mario Draghi entspannt die Lage an den Finanzmärk­ten. Der Euro-Schutzschi­rm ESM wird aufgespann­t.

Der Showdown zwischen der linkspopul­istischen griechisch­en Regierung und der EU führt beinahe zum Ausscheide­n Griechenla­nds aus der Eurozone. Athen akzeptiert schlussend­lich die Sparauflag­en der Geldgeber.

Deutschlan­ds Bundesverf­assungsger­icht erklärt die EZB-Anleihenkä­ufe für teilweise verfassung­swidrig.

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[ AFP ] EZB-Chef Draghi rettete 2012 die Eurozone vor dem Zerfall.

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