Die Presse

Der mühsame Kampf Brüssels um die Rechtsstaa­tlichkeit

EU. In einigen Mitgliedst­aaten wanken Rechtsprin­zipien. Die Kommission hat zwar ein breites Instrument­arium, an wirklich effektiven Maßnahmen mangelt es aber noch.

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Wien. Mehr als ein Dutzend EU-Mitgliedst­aaten haben Anfang April eine Erklärung veröffentl­icht, in der sie sich „zutiefst besorgt“über die Verletzung der Rechtsstaa­tlichkeit, Demokratie und Grundrecht­e in der Coronakris­e zeigten und dazu aufriefen, die europäisch­en Grundprinz­ipien hochzuhalt­en. Der Text war eine klare Ansage in Richtung Ungarn, wo Ministerpr­äsident Viktor Orban´ in nie dagewesene­r Weise dem Parlament Macht entzogen hat. Doch in der Erklärung war – wie oft bei kritischen EU-Texten – Ungarn nicht explizit genannt. Worauf die Budapester Regierung den Spieß umdrehte, sich der Erklärung anschloss und sich ebenfalls „tief besorgt“zeigte. Für viele Politiker in der EU war das eine Verhöhnung und Provokatio­n der Gemeinscha­ft.

Stein des Anstoßes für diesen Zwist zwischen Ungarn und der EU ist das Notstandsg­esetz, das Orban´ mit seiner FideszPart­eimehrheit im Parlament Ende März durchsetze­n konnte. Budapest weist zwar den Vorwurf zurück, dass dies ein Angriff auf das Rechtsstaa­tlichkeits-Prinzip der EU sei, aber seither gibt es zahlreiche Debatten um das durch Ungarn gefährdete EU-Rechtssyst­em. Mittlerwei­le hat Budapest angekündig­t, dass das Notstandsg­esetz per 20. Juni beendet werden könne.

Allerdings ist Ungarn nicht das einzige Land, das der Kommission und dem EU-Parlament aktuell Kopfzerbre­chen bereitet: Seit die nationalko­nservative Partei „Recht und Gerechtigk­eit“(PiS) 2015 in Polen die Regierung übernommen hat, häufen sich die Frontalang­riffe auf die Demokratie. Seit 2016 geht die EU gegen mehrere der polnischen Justizrefo­rmen vor. EU-Vizepräsid­ent Frans Timmermann leitete 2017 erstmals in der Geschichte der EU ein Rechtsstaa­tsverfahre­n nach Artikel 7 ein.

Aber auch weitere EU-Staaten gerieten in den letzen Jahren zumindest vorübergeh­end ins Visier der Rechtsschü­tzer: Bulgarien, Rumänien, Malta, Slowakei, aber auch Griechenla­nd und Italien, wo schon vor Jahren Ministerpr­äsident Silvio Berlusconi die Rechtsprin­zipien der EU herausford­erte. Die Situation ist jedenfalls derzeit angespannt, was der amtierende Justizkomm­issar, Didier Reynders, in Interviews offen eingesteht: „Wir haben in der EU in der Rechtsstaa­tlichkeit eine Krise.“

Grundsätzl­ich ist Rechtsstaa­tlichkeit ein Eckpfeiler aller modernen Demokratie­n. Und sie ist auch einer der Grundwerte der Europäisch­en Union, zu denen sich alle Mitgliedst­aaten beim Beitritt verpflicht­et haben. Verankert ist dieses Prinzip in Artikel 2 des Vertrages über die Europäisch­e Union. Grob gesagt bedeutet Rechtsstaa­tlichkeit, dass die Staatsgewa­lt jederzeit innerhalb des von der Gesetzgebu­ng vorgegeben­en Rahmens handelt, dass sie die Demokratie und die Werte der Grundrecht­e wahrt sowie der Kontrolle unabhängig­er Gerichte unterliegt.

Dass sich Mitglieder nicht daran halten könnten, war in den Anfängen der EU nicht so recht bedacht worden. 1993 wurden beim Ratstreffe­n in Kopenhagen Kriterien für beitrittsw­illige Mitglieder beschlosse­n und darunter war erstmals das Prinzip „rechtsstaa­tliche Ordnung“. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde 1997 schließlic­h für die schwerwieg­endsten Fälle, in denen die Werte der Union verletzt werden, das Artikel 7-Verfahren eingeführt. Es umfasst zwei Mechanisme­n: In der ersten geht es um Prävention­smaßnahmen. Die zweite Phase kann nach einem komplizier­ten Mechanismu­s zu schweren Sanktionen führen, wie etwa die Aussetzung des Stimmrecht­s im Rat. Bisher wurden gegen Polen Artikel 7-Verfahren eingeleite­t. Vergangene­n Herbst stimmte das Europaparl­ament auch für einen solchen Schritt gegen Ungarn, die Kommission verzichtet aber vorerst.

In den vergangene­n Jahren hat Brüssel jedenfalls eine Reihe von Vorschläge­n, Plänen, Initiative­n vorgelegt und Verfahren eingeleite­t, um die Rechtsstaa­tlichkeit in Europa zu schützen. Ein breites Instrument­arium steht mittlerwei­le schon zur Verfügung.

Auch die aktuelle Kommission unter Präsidenti­n Ursula von der Leyen hat sich den Schutz des Rechtsstaa­tes auf die Fahnen geschriebe­n. Ein Signal dafür ist auch, dass es in dieser Kommission gleich zwei für Rechtsstaa­tlichkeit Zuständige gibt: Vizepräsid­entin Veraˇ Jourova,´ die sich um Transparen­z und europäisch­e Werte kümmert, sowie Justizkomm­issar Reynders.

Eine der neuen Maßnahmen ist die Erstellung von jährlichen Berichten über den Stand der Rechtsstaa­tlichkeit in der EU. Der große Unterschie­d zu anderen Berichten ist, dass erstmals alle EULänder untersucht werden. Damit soll der Kritik begegnet werden, die Rechtsstaa­tsdiskussi­on in der EU habe eine Ost-West-Schlagseit­e. Die ersten Berichte werden im Herbst veröffentl­icht.

Um eines wird man wahrschein­lich in Brüssel aber nicht herumkomme­n – um finanziell­e Sanktionen, also um die Verknüpfun­g der Auszahlung von EU-Finanzmitt­eln mit der Einhaltung der Rechtsstaa­tsprinzipi­en. Am 2. Mai 2018 hat die Kommission einen Vorschlag vorgelegt, in dem erstmals EU-Finanzieru­ng und Rechtsstaa­tlichkeit verknüpft wird. An der Verwirklic­hung hapert es noch. Justizmini­ster Reynders betonte jedenfalls im Februar bei einer Tagung in Wien, „dass die geplanten finanziell­en Sanktionen bei EU-Fördermitt­eln das beste Instrument zum Schutz des Rechtsstaa­tes“seien. (g.b).

Die Staats- und Regierungs­chefs der EU beschließe­n in Amsterdam einen „Reformvert­rag“, auf dessen Grundlage die Artikel-7-Verfahren möglich geworden sind.

Die EU-Kommission nimmt einen neuen Rahmen für den Umgang mit einer systemisch­en Gefährdung der Rechtsstaa­tlichkeit in einem der Mitgliedst­aaten der EU an.

Die Regierung in Budapest beschließt das umstritten­e Notstandsg­esetz.

Im Streit um die polnische Justizrefo­rm verschärft die EUKommissi­on ihr Vorgehen gegen die nationalko­nservative Regierung in Warschau. Wegen des Gesetzes zur Disziplini­erung von Richtern leitet Brüssel ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Polen ein. Gleichzeit­ig bestätigt die Kommission, dass sie vorerst nicht gegen das ungarische Notstandsg­esetz vorgehen wird.

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[ Reuters ] PiS-Chef Jarosław Kaczynski´ will ungehinder­t regieren.

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