Ein Westafrikaner in den Abgründen Berlins
Film. Burhan Qurbani nimmt sich in seiner düsteren Adaption von „Berlin Alexanderplatz“viele Freiheiten – und überzeugt.
Von all den formensprengenden Großstadtromanen der Moderne ist Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“(1929) immer noch einer der modernsten. Weit davon entfernt, Zeugnis eines der „schwierigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“zu sein, wie Marcel Reich-Ranicki Döblin einst genannt hat, erstaunt heute vor allem seine Zugänglichkeit.
Döblins Montagetechnik, sein Spiel mit den Genres, der resche, straßenkundige Sprachfluss: All das zählt längst zum Grundrepertoire ambitionierter Sozialliteratur. Was einst sperrig gewirkt haben mag, überzeugt heute als hohe Unterhaltungskunst – und hat nichts Angestaubtes an sich. So ist man skeptisch, wenn man von einer „modernisierten“Verfilmung hört. Erwartet einen eine hanebüchene Übertragung der Handlung in die digitale Gegenwart? Ein Franz Biberkopf, dem statt urbaner Sinnesstrudel Fake News im FacebookFeed zusetzen? Eine platt aufgepeppte Alternative zu schulischer Pflichtlektüre, wie die jüngste Filmadaption von „Jugend ohne Gott“?
Weder noch, zum Glück. Burhan Qurbani nimmt sich zwar alle erdenklichen Freiheiten. Doch seine Interpretation biedert sich nicht dem Gegenwartspublikum an, sondern nutzt die Vorlage als Sprungbrett für Eigenständiges. Die sinnfälligste Änderung betrifft die Hauptfigur. Biberkopf ist kein deutscher Tagelöhner mehr, sondern ein Geflüchteter aus Guinea-Bissau (Welket Bungue).´ Döblin hätte diese Idee gutgeheißen: Der Fokus seines Romans galt dezidiert den Außenseitern der Gesellschaft seiner Zeit. Zudem eignet der Neuorientierung subversive Ironie: Aus dem blonden Hünen der Vorlage, der an einer Stelle als „arischer Mann“Krawattenhalter feilbietet, wird ein stolzer Schwarzer, der sich nur widerwillig vereinnahmen lässt.
Drogendealer als Freund
Dennoch sucht Franz, der erst noch Francis heißt, nach einem Platz in seiner neuen Welt, an deren Ufer er buchstäblich angespült wurde. Und findet ihn just unter den Fittichen des Drogendealers Reinhold. Albrecht Schuch gibt diesen verschlagenen Menschenfänger mit sanft säuselnder Stimme und facettenreich, mutiert vom Verführer zum Freund, vom Tröster zum Tyrann. Und bleibt doch armer Teufel, der nach Liebe lechzt: eine Glanzleistung.
Bungue´ hat indes wenig vom sündhaften Spielball des Schicksals, den manche im Döblin’schen Biberkopf sehen. Auch sein Franz macht Fehler, strauchelt, verfällt dem Sog des Berliner Molochs. Aber er kämpft dagegen an, widersetzt sich – und wird mehr hinters Licht geführt, als dass er selber in den Abgrund hüpft. Von den Vergehen seiner Vergangenheit dringt wenig an die Oberfläche der Erzählung. Auch sein Verhalten gegenüber Frauen, darunter die angebetete Mieze (Jella Haase), ist viel respektvoller als das des grobschlächtigen Biberkopf. Ein Antiheld ist das nicht mehr. Eher ein tragischer Held.
Das könnte man als Verflachung kritisieren. Wie den Umstand, dass dieser „Alexanderplatz“nur noch wenig Spreestadtleben in sich trägt. Döblins Reizüberflutungscollage und Milieupanorama weicht einer enorm künstlichen, hermetischen Parallelwelt aus Nachtklubs, Parks und WGZimmern, bloße Bühnenkulissen für das Drama des stark reduzierten Figurenensembles.
Doch wozu wiederholen, was bereits (vorbildlich) durchgespielt wurde? Den sozialrealistischen Zugang erprobte Phil Jutzi schon 1931, wobei Döblin am Drehbuch mitwirkte. Und eine umfassendere, detailsattere „Alexanderplatz“Adaption als Rainer Werner Fassbinders 14-teiliges TV-Epos kann man sich fast nicht vorstellen.
Kein böses Sittenbild
So hat Qurbanis Fassung gerade durch ihr Abweichen von etablierten Deutungsmustern einen Platz neben ihren Vorgängern. Sie bietet keinen moralischen Großstadtfilm, kein böses Sittenbild, sondern eine düster schimmernde Unterweltoper – ein episches Oratorium voller Hoffnung und Grausamkeit, in dessen symbolschweren Wendungen sich die Widersprüche und Scheinheiligkeiten deutscher Willkommenskultur spiegeln.
Von theatralischer Gesetztheit fehlt dabei fast jede Spur, selbst wenn direkte Zitate aus dem Ursprungstext aufbranden. Stattdessen wird man von einem neonfarbenen Bilderstrom mitgerissen, der mit seinen Traumsequenzen und wechselnden, als Schnittkitt fungierenden Erzählstimmen an die Stilistik des Filmpriesters Terrence Malick erinnert. Gleichwohl Qurbani die visuelle Spannung nie lang halten kann: Oft bringen wackelige Dialogszenen den Fluss zum Stocken.
Trotzdem fiebert man mit. Und wünscht diesem Franz die Läuterung vielleicht noch mehr als seinen filmischen Vorläufern. Damit er wirklich, wie eingangs geschworen, anständig werden kann – nach seinen eigenen Maßstäben.