Die Spur der Steine
Oberösterreich. Wie schön „nichts“sein kann, zeigt der neue Weitwanderweg „Granitpilgern“im Oberen Mühlviertel, dem (einstigen) Land der Leinenweber. 95 Kilometer Ruhe in idyllischer Natur, mit der Gelegenheit zu authentischen Erlebnissen und zur Begegnung mit beseelten Menschen.
Schatz, wir sind da! – Wo? – Na, am Ziel. – Aber hier ist ja gar nichts. – Eben!“So stimmt die Homepage des neuen, oberösterreichischen Weitwanderweges, „Granitpilgern“, künftige Wanderfreunde auf das zu erwartende Naturerlebnis ein. Weite, Ruhe und Entschleunigung im „Off“sind hier angesagt. Wer tatsächlich aufbricht, um per pedes das Obere Mühlviertel, das Land der Leinenweber, zu erkunden, merkt schnell, dass es hier sehr wohl mehr als „gar nichts“zu entdecken gibt.
Die Region ist im wortwörtlichen Sinn steinreich: Granit ist das bestimmende Element, das Wasser formte ihn. Beides erleben wir intensiv auf Burg Piberstein nahe Helfenberg, einem mächtig aufragenden Gemäuer aus dem 13. Jahrhundert. Altehrwürdiger Stein um uns herum, frisches Wasser von oben. Als Schnürlregen.
Wieder erwachte Burg
Hermann Eckerstorfer, der frühere Hauptschullehrer von Helfenberg, ist seit vielen Jahren der gute Geist von Piberstein: Ab den 1960ern ließ er mit viel Liebe und unermüdlichen Helfern aus der damaligen Ruine die heutige Burganlage wieder auferstehen. Nicht einmal als das kaum fertiggestellte Werk 2002 von einem Brandstifter nahezu gänzlich zunichtegemacht wurde, gab er auf. Neuerlich organisierte Eckerstorfer Gelder und fleißige Hände und kann so heute durch „seine“Burg führen (der Brandstifter wurde übrigens niemals gefunden). „Piberstein wurde im 16. Jahrhundert von den Schallenbergern übernommen, jenem Geschlecht, dem auch der gegenwärtige Außenminister entstammt“berichtet er.
Von außen eher schlicht, überrascht die Burg in Inneren: Da gibt es einen schönen Konzertsaal, eine kleine Ausstellung über die Geschichte der Burg und in den Kasematten stilvolle Gewölbe für Veranstaltungen jeder Art samt einladender Ausschank. Eckerstorfer renovierte die Gemäuer nicht nur, sondern hauchte ihnen auch neues Leben ein: Alljährlich organisiert der kunstsinnige Naturmensch den Kultursommer Piberstein (mit Konzerten, Lesungen und Kabarett) sowie einen Handwerksmarkt. „Covid bremst uns heuer leider ein“, bedauert er. „Das Programm ist eingeschränkt, der Markt abgesagt!“
Eckerstorfers Lieblingsplatz auf der Burg befindet sich oben auf den Resten des Bergfrieds, die mittlerweile von einer mächtigen Linde umwuchert sind. Mit Blick ins weite Land sinniert er: „Die Burg wurde niemals eingenommen. Nicht einmal von den brandschatzenden Hussiten. Weil die Gegend hier immer schon völlig uninteressant war.“
Dass das Obere Mühlviertel offensichtlich eine Region des notorischen Understatements ist, merken wir wenige Sekunden später, als sich die Regenwolken öffnen, der Sonne Platz und den Ausblick frei machen: grüne, rollende Hügel, urige Dörfer, ausgedehnte Wälder, wogende Wiesen, unberührte Natur, Idylle pur. Von wegen hier gibt es gar nichts . . .
Die Sonne scheint – das Granitpilgern ruft. Der Weitwanderweg führt über 95 Kilometer und Mittelgebirgserhebungen, vorbei an traditionellen Kulturzeugen, grauen Steinmonumenten und geheimnisvollen Kraftplätzen fast bis an die Grenze zu Tschechien. Wir marschieren bei der Waldkapelle Maria Rast, einem beliebten Hochzeitskirchlein inmitten gesunden Mischwaldes, los. Die Kirche ruht auf einem sogenannten Schalenstein, einem Granitklotz mit zwei konkaven Einbuchtungen, jede gerade groß genug für einen Menschen. „Der Sage nach rastete hier die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten“erzählt Hermann Eckerstorfer. „Für sie erweichte sich der harte Fels und schmiegte sich bequem an Maria und Josef an. Viele sagen, das sei ein starker Kraftplatz.“Wir sind neugierig und besteigen die Granitschalen. Irgendwie ist es hier wirklich anders – kribbelt es gar in den Waden? Oder ist da nichts?
Der Pfad führt weiter in den tiefen Wald, vorbei an einem keltischen Steinkreis zu einer heiligen Quelle. Das Wasser soll bei Augenleiden helfen, meint Eckerstorfer. Doch dass im Oberen Mühlviertel sogar das Wasser steinreich sein kann, beweist kurz darauf die „Steinerne Mühl“: Im Bachbett gibt es mehr rund geschliffene, bemooste Granitnocken als gurgelndes Nass.
Langsamer Fleckerlteppich
Tags darauf geht es entlang der wasserreich rauschenden Großen Mühl Richtung Haslach. In dem entzückenden Weberort sollten Wanderer einen längeren Stopp einlegen: Im Webereimuseum und im Textilen Zentrum kann man die Tradition der Leinenweberei nacherleben (in der Region gibt es heute noch 14 aktive Webereien); weiters sehenswert sind die Mühlviertler Ölmühle, die Mechanische Klangfabrik (alles dreht sich, alles bewegt sich, alles macht Musik . . .) sowie einige Museen und Galerien mehr. Die Bedeutung von Granit als regionaler Baustoff beweist nicht nur der mächtige spätgotische Kirchturm.
Unter dem Kirchhügel von Haslach treffen sich Große und Steinerne Mühl. Zweitere plätschert hier gemächlich durch nahezu unberührten Auwald. Die Granitpilger-Wegweiser geleiten uns flussaufwärts, Heilkräuter wie Mädesüß, Engelwurz und Beinwell wachsen entlang des Weges. Etappenziel ist Helfenberg: Über dem tief im Graben versteckten Ort liegt das Schloss. Obwohl der Privatbesitz nicht besichtigt werden kann, lohnt ein kurzer Abstecher: Die gräfliche Familie hat offenbar ein Faible für geometrische Formen – zumindest lässt sie die Büsche der Zufahrt in vielfältige fantasievolle Gebilde zusammenstutzen.
Uns zieht es ins Ortszentrum: Unten am Hauptplatz tuckert in einem Glaskubus der sogenannte Jahrhundertwebstuhl. „Das ist der langsamste Webstuhl der Welt“, lacht Peter Haudum, der rührige Wirt des gleichnamigen Gasthofs direkt nebenan. „Bei uns im Mühlviertel gehen die Uhren anders.“Die Maschine soll bis zum ersten Jänner 2100 einen langen Fleckerlteppich fertigstellen. Das bedeutet 14 Meter pro Jahr.
Wir beziehen im gemütlichen Gasthof Haudum Quartier: Die müden Beine finden in der Sauna
Entspannung, der leere Magen dank bester Wirtshausküche genüssliche Labung. Die weithin bekannte Speckwerkstatt Haudum vermittelt Wissenswertes zum Thema Suren, Selchen und Räuchern und offeriert neun verschiedene Specksorten von Schwein und Rind. Es schmeckt köstlich.
Im Kreis oder in Etappen
Der neue Weitwanderweg „Granitpilgern“führt über 95,5 Kilometer, verbindet zehn Gemeinden – von St. Martin im Mühlkreis im Süden über Neufelden im Westen, Haslach im Norden und Helfenberg im Osten. Er führt vorwiegend über Waldwege, Forststraßen und Steige, mitunter auch auf wenig befahrenen Asphalt-Nebenstraßen. Zwischendurch gibt’s immer wieder den Granit zu erleben: in der Landschaft, bei Burgen und Kirchen, Steinbrüchen, Naturdenkmälern oder in der „Erlebniswelt Granit“bei St. Martin. Als Auszeit vom Alltag gehört die Granitpilger-Route ganz den Wanderern, für Mountainbiker sind die gut ausgeschilderten Pfade verboten. Der technische Anspruch ist gering, für die vorgesehenen drei bis vier Etappen benötigt man allerdings Ausdauer und Kondition – für bis zu 35 Kilometer Marsch pro Tag.
Peter Haudum offeriert alternativ die maximal komfortable Variante: Die GranitpilgerPauschale mit drei Übernachtungen in seinem urig-gemütlichen Gasthof inkludiert auch Wandertransfers. Heißt: Täglich neu entscheidet der Wanderfreund, welche Etappe und wie lange er gehen möchte. Drückt einmal der Schuh oder naht ein Gewitter, reicht ein Anruf – und schon macht sich das heimholende Wandertaxi auf den Weg.
Granitpilgern ist ein anderes Wandererlebnis, entspannter, entschleunigter und ruhiger als auf den frequentierten Routen in den Alpen; vielleicht auch echter, herzlicher und authentischer als in den bekannten touristischen Regionen. „Ah, seid ihr die neuen Granitpilger . . .“, werden wir am Weg immer wieder von Einheimischen gefragt. „. . . wie gefällt es euch bei uns?“Sehr gut! Wir haben nicht gewusst, wie schön „nichts“sein kann.