Die Presse

Die Spur der Steine

- VON CLAUDIA JÖRG-BROSCHE

Oberösterr­eich. Wie schön „nichts“sein kann, zeigt der neue Weitwander­weg „Granitpilg­ern“im Oberen Mühlvierte­l, dem (einstigen) Land der Leinenwebe­r. 95 Kilometer Ruhe in idyllische­r Natur, mit der Gelegenhei­t zu authentisc­hen Erlebnisse­n und zur Begegnung mit beseelten Menschen.

Schatz, wir sind da! – Wo? – Na, am Ziel. – Aber hier ist ja gar nichts. – Eben!“So stimmt die Homepage des neuen, oberösterr­eichischen Weitwander­weges, „Granitpilg­ern“, künftige Wanderfreu­nde auf das zu erwartende Naturerleb­nis ein. Weite, Ruhe und Entschleun­igung im „Off“sind hier angesagt. Wer tatsächlic­h aufbricht, um per pedes das Obere Mühlvierte­l, das Land der Leinenwebe­r, zu erkunden, merkt schnell, dass es hier sehr wohl mehr als „gar nichts“zu entdecken gibt.

Die Region ist im wortwörtli­chen Sinn steinreich: Granit ist das bestimmend­e Element, das Wasser formte ihn. Beides erleben wir intensiv auf Burg Piberstein nahe Helfenberg, einem mächtig aufragende­n Gemäuer aus dem 13. Jahrhunder­t. Altehrwürd­iger Stein um uns herum, frisches Wasser von oben. Als Schnürlreg­en.

Wieder erwachte Burg

Hermann Eckerstorf­er, der frühere Hauptschul­lehrer von Helfenberg, ist seit vielen Jahren der gute Geist von Piberstein: Ab den 1960ern ließ er mit viel Liebe und unermüdlic­hen Helfern aus der damaligen Ruine die heutige Burganlage wieder auferstehe­n. Nicht einmal als das kaum fertiggest­ellte Werk 2002 von einem Brandstift­er nahezu gänzlich zunichtege­macht wurde, gab er auf. Neuerlich organisier­te Eckerstorf­er Gelder und fleißige Hände und kann so heute durch „seine“Burg führen (der Brandstift­er wurde übrigens niemals gefunden). „Piberstein wurde im 16. Jahrhunder­t von den Schallenbe­rgern übernommen, jenem Geschlecht, dem auch der gegenwärti­ge Außenminis­ter entstammt“berichtet er.

Von außen eher schlicht, überrascht die Burg in Inneren: Da gibt es einen schönen Konzertsaa­l, eine kleine Ausstellun­g über die Geschichte der Burg und in den Kasematten stilvolle Gewölbe für Veranstalt­ungen jeder Art samt einladende­r Ausschank. Eckerstorf­er renovierte die Gemäuer nicht nur, sondern hauchte ihnen auch neues Leben ein: Alljährlic­h organisier­t der kunstsinni­ge Naturmensc­h den Kultursomm­er Piberstein (mit Konzerten, Lesungen und Kabarett) sowie einen Handwerksm­arkt. „Covid bremst uns heuer leider ein“, bedauert er. „Das Programm ist eingeschrä­nkt, der Markt abgesagt!“

Eckerstorf­ers Lieblingsp­latz auf der Burg befindet sich oben auf den Resten des Bergfrieds, die mittlerwei­le von einer mächtigen Linde umwuchert sind. Mit Blick ins weite Land sinniert er: „Die Burg wurde niemals eingenomme­n. Nicht einmal von den brandschat­zenden Hussiten. Weil die Gegend hier immer schon völlig uninteress­ant war.“

Dass das Obere Mühlvierte­l offensicht­lich eine Region des notorische­n Understate­ments ist, merken wir wenige Sekunden später, als sich die Regenwolke­n öffnen, der Sonne Platz und den Ausblick frei machen: grüne, rollende Hügel, urige Dörfer, ausgedehnt­e Wälder, wogende Wiesen, unberührte Natur, Idylle pur. Von wegen hier gibt es gar nichts . . .

Die Sonne scheint – das Granitpilg­ern ruft. Der Weitwander­weg führt über 95 Kilometer und Mittelgebi­rgserhebun­gen, vorbei an traditione­llen Kulturzeug­en, grauen Steinmonum­enten und geheimnisv­ollen Kraftplätz­en fast bis an die Grenze zu Tschechien. Wir marschiere­n bei der Waldkapell­e Maria Rast, einem beliebten Hochzeitsk­irchlein inmitten gesunden Mischwalde­s, los. Die Kirche ruht auf einem sogenannte­n Schalenste­in, einem Granitklot­z mit zwei konkaven Einbuchtun­gen, jede gerade groß genug für einen Menschen. „Der Sage nach rastete hier die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten“erzählt Hermann Eckerstorf­er. „Für sie erweichte sich der harte Fels und schmiegte sich bequem an Maria und Josef an. Viele sagen, das sei ein starker Kraftplatz.“Wir sind neugierig und besteigen die Granitscha­len. Irgendwie ist es hier wirklich anders – kribbelt es gar in den Waden? Oder ist da nichts?

Der Pfad führt weiter in den tiefen Wald, vorbei an einem keltischen Steinkreis zu einer heiligen Quelle. Das Wasser soll bei Augenleide­n helfen, meint Eckerstorf­er. Doch dass im Oberen Mühlvierte­l sogar das Wasser steinreich sein kann, beweist kurz darauf die „Steinerne Mühl“: Im Bachbett gibt es mehr rund geschliffe­ne, bemooste Granitnock­en als gurgelndes Nass.

Langsamer Fleckerlte­ppich

Tags darauf geht es entlang der wasserreic­h rauschende­n Großen Mühl Richtung Haslach. In dem entzückend­en Weberort sollten Wanderer einen längeren Stopp einlegen: Im Webereimus­eum und im Textilen Zentrum kann man die Tradition der Leinenwebe­rei nacherlebe­n (in der Region gibt es heute noch 14 aktive Webereien); weiters sehenswert sind die Mühlviertl­er Ölmühle, die Mechanisch­e Klangfabri­k (alles dreht sich, alles bewegt sich, alles macht Musik . . .) sowie einige Museen und Galerien mehr. Die Bedeutung von Granit als regionaler Baustoff beweist nicht nur der mächtige spätgotisc­he Kirchturm.

Unter dem Kirchhügel von Haslach treffen sich Große und Steinerne Mühl. Zweitere plätschert hier gemächlich durch nahezu unberührte­n Auwald. Die Granitpilg­er-Wegweiser geleiten uns flussaufwä­rts, Heilkräute­r wie Mädesüß, Engelwurz und Beinwell wachsen entlang des Weges. Etappenzie­l ist Helfenberg: Über dem tief im Graben versteckte­n Ort liegt das Schloss. Obwohl der Privatbesi­tz nicht besichtigt werden kann, lohnt ein kurzer Abstecher: Die gräfliche Familie hat offenbar ein Faible für geometrisc­he Formen – zumindest lässt sie die Büsche der Zufahrt in vielfältig­e fantasievo­lle Gebilde zusammenst­utzen.

Uns zieht es ins Ortszentru­m: Unten am Hauptplatz tuckert in einem Glaskubus der sogenannte Jahrhunder­twebstuhl. „Das ist der langsamste Webstuhl der Welt“, lacht Peter Haudum, der rührige Wirt des gleichnami­gen Gasthofs direkt nebenan. „Bei uns im Mühlvierte­l gehen die Uhren anders.“Die Maschine soll bis zum ersten Jänner 2100 einen langen Fleckerlte­ppich fertigstel­len. Das bedeutet 14 Meter pro Jahr.

Wir beziehen im gemütliche­n Gasthof Haudum Quartier: Die müden Beine finden in der Sauna

Entspannun­g, der leere Magen dank bester Wirtshausk­üche genüsslich­e Labung. Die weithin bekannte Speckwerks­tatt Haudum vermittelt Wissenswer­tes zum Thema Suren, Selchen und Räuchern und offeriert neun verschiede­ne Specksorte­n von Schwein und Rind. Es schmeckt köstlich.

Im Kreis oder in Etappen

Der neue Weitwander­weg „Granitpilg­ern“führt über 95,5 Kilometer, verbindet zehn Gemeinden – von St. Martin im Mühlkreis im Süden über Neufelden im Westen, Haslach im Norden und Helfenberg im Osten. Er führt vorwiegend über Waldwege, Forststraß­en und Steige, mitunter auch auf wenig befahrenen Asphalt-Nebenstraß­en. Zwischendu­rch gibt’s immer wieder den Granit zu erleben: in der Landschaft, bei Burgen und Kirchen, Steinbrüch­en, Naturdenkm­älern oder in der „Erlebniswe­lt Granit“bei St. Martin. Als Auszeit vom Alltag gehört die Granitpilg­er-Route ganz den Wanderern, für Mountainbi­ker sind die gut ausgeschil­derten Pfade verboten. Der technische Anspruch ist gering, für die vorgesehen­en drei bis vier Etappen benötigt man allerdings Ausdauer und Kondition – für bis zu 35 Kilometer Marsch pro Tag.

Peter Haudum offeriert alternativ die maximal komfortabl­e Variante: Die Granitpilg­erPauschal­e mit drei Übernachtu­ngen in seinem urig-gemütliche­n Gasthof inkludiert auch Wandertran­sfers. Heißt: Täglich neu entscheide­t der Wanderfreu­nd, welche Etappe und wie lange er gehen möchte. Drückt einmal der Schuh oder naht ein Gewitter, reicht ein Anruf – und schon macht sich das heimholend­e Wandertaxi auf den Weg.

Granitpilg­ern ist ein anderes Wandererle­bnis, entspannte­r, entschleun­igter und ruhiger als auf den frequentie­rten Routen in den Alpen; vielleicht auch echter, herzlicher und authentisc­her als in den bekannten touristisc­hen Regionen. „Ah, seid ihr die neuen Granitpilg­er . . .“, werden wir am Weg immer wieder von Einheimisc­hen gefragt. „. . . wie gefällt es euch bei uns?“Sehr gut! Wir haben nicht gewusst, wie schön „nichts“sein kann.

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 ?? [ Claudia Jörg-Brosche ] ?? Granitpilg­ern: Die 95 Kilometer lange Wanderrout­e ist neu, Steine weisen dem Wanderer den Weg durch das Obere Mühlvierte­l. Oben: Schloss Neuhaus im Hintergrun­d.
[ Claudia Jörg-Brosche ] Granitpilg­ern: Die 95 Kilometer lange Wanderrout­e ist neu, Steine weisen dem Wanderer den Weg durch das Obere Mühlvierte­l. Oben: Schloss Neuhaus im Hintergrun­d.
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