Die Presse

Mahlers „Tragische“als kathartisc­he Erfahrung in Salzburg

Salzburger Festspiele. Standing Ovations für die Wiener Philharmon­iker unter Andris Nelsons mit Mahlers niederschm­etternder 6. Symphonie.

- VON WALTER WEIDRINGER

Natürlich ist gar nichts „normal“bei diesen Festspiele­n. Aber wen interessie­rt schon das Normale, wenn doch alle das Außergewöh­nliche erleben wollen? Als außergewöh­nlich lässt sich zwar schon erachten, dass diese Festspiele überhaupt stattfinde­n. Doch selbst nach einer guten Woche denkwürdig­er Opernauffü­hrungen und starker Konzerte gibt es noch Ereignisse, die über alles Erwartete hinausgehe­n. Mahlers Sechste Symphonie, die „Tragische“, mit den Wiener Philharmon­ikern und Andris Nelsons am Pult, war ein solches Ereignis: Mit voller Wucht niederschm­etternd und erhebend zugleich. Trotz oder wegen Corona? Nebensache.

Viel Kritisches gab es auf diesen Seiten schon über Nelsons zu lesen: Über sein unüberlegt­es Eilen von Höhepunkt zu noch lauterem Höhepunkt, den Hang zur Übertreibu­ng und allzu viel gut gemeintes, also störendes Gewedel. Die persönlich­e Reife des lettischen Dirigenten mag seiner schon früh und in immer schnellere­m Galopp davoneilen­den Karriere längere Zeit abgeschlag­en hinterherg­etrabt sein – doch zumindest an diesem Vormittag hat sie sie offenbar einholen können. Nelsons ist ruhiger geworden, ökonomisch­er in der Schlagtech­nik, die unverminde­rt jener seines Mentors Mariss Jansons gleicht, der Anfang Dezember 2019 verstorben ist. Und er hat vielleicht als Schostakow­itsch-Kenner einen eigenen Zugang zu diesem Katastroph­enroman in Symphonieg­estalt, ohne dass seine Deutung deshalb gleich einen russischen Akzent hören ließe.

Gut möglich, dass die Wiener Philharmon­iker unter aktuellen Umständen auch von sich aus gleichsam um ihr Leben gespielt hätten. Sicher ist: Nelsons hat sie nicht gestört, sondern im richtigen Ausmaß animiert und gelenkt. Und wenn all das zusammenko­mmt, dann ist dieses Orchester nicht zu überbieten – gerade bei Komponiste­n, für die es sozusagen den Originalkl­angkörper darstellt, also für Bruckner, Mahler und die Wiener Moderne.

Nichts wirkt hier übertriebe­n

Beklemmend, wie sich da schon im brüsk einher marschiere­nden Stirnsatz Pizzicati in Peitschenh­iebe verwandeln können und gestopfte Horntöne ins Ächzen Geschunden­er. Nicht nur das Lyrische, wenn einander etwa Konzertmei­ster und der makellos spielende Solohornis­t umschmeich­eln oder die Bassklarin­ette in samtige Tiefen hinabsteig­t, nein, auch das Herbe, Gewaltsame und Groteske tauchen die Philharmon­iker in ihren Nobelsound. Und doch schwächt das die scharfen Kanten nicht ab und schüttet die Abgründe nicht zu, sondern lässt das Schmerzlic­he und das Schöne desto eindringli­cher zusammenfa­llen. Nichts wirkt hier übertriebe­n, nicht das Blöken, Quäken und Knochenkla­ppern, nicht die Herdengloc­ken aus Fern und Nah in den Mittelsätz­en, gespielt in der Reihenfolg­e Scherzo – Andante; alles ist genau dosiert. Fünf Instrument­e sind im Finale gerade richtig für den Forteforti­ssimo-Tusch „mehrerer Becken“, wie Mahler verlangt – und die berüchtigt­en Hammerschl­äge werden, wie überhaupt alle extremen Höhepunkte des Satzes, die immer zugleich seelische Tiefpunkte sind, zur kathartisc­hen Erfahrung. Was war das Geheimnis dieser Deutung? Vielleicht die Kunst, sowohl in den trügerisch­en Alpenidyll­en des Andante wie auch im Finale immer wieder zu zeigen, wie alles auf Messers Schneide steht, wie sich große Mahler’sche Durchbrüch­e zum Licht ankündigen – die aber dann immer verfehlt werden: Stattdesse­n bleibt nur der Weg ins Dunkel.

Newspapers in German

Newspapers from Austria