Hilfe für ein Land am Abgrund
Libanon. Die von Präsident Macron einberufene Geberkonferenz will dem Land rasch helfen. Doch die politische Klasse sträubt sich selbst nach Ausschreitungen gegen Zugeständnisse.
Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, sparte nicht mit dramatischen Worten. „Die Zukunft des Libanon steht auf dem Spiel“, sagte er am Sonntag auf der von ihm zusammengetrommelten internationalen Video-Geberkonferenz, an der auch USPräsident Donald Trump teilnahm. Die Explosion in Beirut habe alle Reserven des Landes zerstört. Jetzt gelte es als Erstes, die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu sichern. „Wir müssen schnell und effizient handeln. Wir müssen alles tun, damit der Libanon nicht in Gewalt und Chaos versinkt.“Die Führung des Zedernstaats beschwor er erneut, auf die legitimen Forderungen der Bevölkerung zu reagieren.
Den Bedarf an Soforthilfe für die nächsten drei Monate beziffern die Vereinten Nationen auf 117 Millionen Dollar. Die Schäden in dem halb zerstörten Beirut werden mittlerweile auf mehr als 15 Milliarden Dollar geschätzt. Entsprechend wächst unter den Betroffenen die Empörung über das völlig ungenierte Weiterwursteln ihrer politischen Klasse und das harte Vorgehen der Ordnungskräfte gegen die Demonstranten, die am Wochenende erstmals nach der Katastrophe ihrem Zorn Luft verschafften.
Massiver Polizeieinsatz in Beirut
Auf dem Märtyrer-Platz im Zentrum nahe der Blauen Moschee errichtete die Menge symbolische Galgen, an denen sie Pappfiguren mit Gesichtern von Staatschef Michel Aoun, Parlamentspräsident Nabih Berri und Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah aufknüpften. „Zurücktreten oder hängen“, stand auf großen Transparenten. „Der Libanon gehört uns“, skandierte die Menge und „Raus mit dem Iran“. Der Patriarch der christlichen Maroniten forderte den Rücktritt des gesamten Kabinetts und nannte die Mega-Explosion „ein Verbrechen gegen die Menschheit“.
Die Polizei reagierte mit massivem Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen. Bis tief in die Nacht zum Sonntag dauerten die Zusammenstöße, bei denen nach Angaben des Roten Kreuzes 65 Menschen verletzt wurden. Ein Polizist starb an einer Schussverletzung. Wie Aktivisten auf Twitter berichteten, weigerten sich Männer und Frauen der Berufsfeuerwehr, auszurücken und ihre Löschfahrzeuge als Wasserwerfer gegen die Demonstranten einzusetzen. Am Sonntag sollten weitere Proteste stattfinden.
Neun der zehn am Dienstag zuerst zum Brandort im Hafen gerufenen Feuerwehrleute werden noch vermisst, auch von ihrem Fahrzeug fehlt jede Spur. Lediglich die Leiche der 25-jährigen Sanitäterin des Teams konnte geborgen werden. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind bisher 158 Menschen gestorben. 60 werden noch vermisst. Die Zahl der Verletzten kletterte auf über 6000. 300.000 Menschen, darunter 100.000 Kinder, verloren ihre Wohnungen.
Ungeachtet dieses Desasters sträubt sich die politische Kaste in Beirut gegen eine Untersuchung durch internationale Experten. Der 84-jährige Staatspräsident und frühere Warlord Michel Aoun, dessen Christenpartei mit der Hisbollah paktiert, sprach von „Zeitverschwendung“. In die gleiche Kerbe hieb auch Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Mit den Zuständen am Hafen habe seine Organisation nichts zu tun und dort auch keine Waffen deponiert. „Solltet ihr eine Schlacht gegen die Hisbollah anzetteln, werdet ihr nichts erreichen“, drohte er der Bevölkerung der zerstörten Innenstadtviertel. Die Wohnbezirke der irantreuen Schiitenmiliz im Süden Beiruts blieben unbeschädigt.
Informationsministerin tritt zurück
Israelische Medien berichteten, Nasrallah habe nach 2009 mehrfach versucht, über Syrien an Ammoniumnitrat zu kommen und Israel 2016 öffentlich gedroht, das Ammoniumnitrat-Depot der Düngemittelfabrik von Haifa in Brand zu schießen, „was so viele Opfer wie bei einer Atombombe fordern würde“. Israel verlegte daraufhin die brisanten Chemikalien in die Negev-Wüste. Das nährt Spekulationen, dass Nasrallah die beschlagnahmten 2750 Tonnen Ammoniumnitrat als eine unverhoffte Gelegenheit ansah und zu dem Schluss kam, man könne die Hand am besten auf dem brisanten Bombenmaterial halten, wenn es im Hafen verbleibe.
Am Sonntag kündigte als erstes Mitglied der Regierung Informationsministerin Manal Abdel Samad ihren Rücktritt an, die am Freitag auf der Straße von Passanten erkannt und lauthals beschimpft worden war. Sie begründete ihren Schritt mit dem Wunsch der Bevölkerung nach Veränderung.
Wir müssen schnell und effizient handeln, damit diese Hilfe direkt dort ankommt, wo sie benötigt wird.
Emmanuel Macron, Präsident Frankreichs [ AFP ]