Die Presse

Warum es im Stadion die Masse macht

Essay. Intellektu­elle zeigen der Masse in jedem DiskursMat­ch die rote Karte. Nun tritt der gelehrte Fußballfan Hans Ulrich Gumbrecht in „Crowds“zur Revanche an.

- VON KARL GAULHOFER Buchtipp: Hans Ulrich Gumbrecht „Crowds. Das Stadion als Ritual der Intensität“, Klosterman­n, 153 Seiten

Fußball ohne Zuschauer? Ein neues Buch des gelehrten Fußballfan­s Hans Ulrich Gumbrecht beleuchtet die Wichtigkei­t der Masse.

Der Ball rollt wieder, aber die Stadien bleiben leer. Über den Rasen hallen nur, bislang nie vernommen, die banalen, derben Sprüche der Spieler, die kaum anders klingen als am Kickplatz im Dorf. Sie gehen nicht mehr auf im vielstimmi­gen Chor auf den Rängen, im Anfeuern, Singen, Pfeifen, Klatschen und Trommeln der Fans. Weltweit sind Sportereig­nisse mit starker Zuschauerp­räsenz wegen Corona verboten, wie auch Rockkonzer­te oder Papstmesse­n.

Na bitte, es geht ja auch ohne, frohlocken ihre Verächter. Die aggressive Energie der geballten Masse hat zarte Gemüter immer befremdet, ja abgestoßen. Enthemmte, schwitzend­e, brüllende Horden machen ihnen Angst, durch sporadisch­e Gewaltausb­rüche fühlen sie sich bestätigt. Und haben nicht politische Massenbewe­gungen, angeführt von hypnotisie­renden Rattenfäng­ern, stets nur Unglück gebracht? Schon mehren sich Stimmen, man solle die Drehkreuze am Eingang auf Dauer blockieren. Isoliert vor dem Fernseher zuhause könnten Fans kein Unheil anrichten. Wenn es ihnen wirklich um den Sport geht, müsse das reichen. Und an leere Stadien würden wir uns ebenso gewöhnen wie an leere Kathedrale­n.

Es ist an der Zeit, dass auch die Gegenseite das wohl artikulier­te Wort erhebt. Man kennt Hans Ulrich Gumbrecht, dessen Essay „Crowds“jüngst erschienen ist, als Literaturw­issenschaf­tler und Publiziste­n, aber auch als Fan: von Borussia Dortmund und vom American Football-Klub in Stanford, wo er drei Jahrzehnte lang lehrte. Einer, für den „Stadionere­ignisse zum Besten gehören, was mir das Leben gegeben hat“. Der schon einmal Biergläser vom Tisch fegt, wenn seine Mannschaft im Duell gegen den Erzgegner verliert. Und der sich unter die wahren Fans in der Kurve mischt, voller Verachtung für die Sektschlür­fer auf der VIP-Tribüne, die ein Spiel so gelassen genießen wie ein Kammerkonz­ert. Aber auch jemand, der die Last der Denktradit­ion auf dem Buckel spürt.

Das bürgerlich­e Zeitalter prägte unser Selbstbild als Individuen, die sich voneinande­r unterschei­den sollen. Nietzsche wetterte gegen den „Herdentrie­b“, Gustave Le Bon gegen den „Massenmens­chen“, der seine Kritikfähi­gkeit verliert, sich wie ein Kind von Affekten treiben lässt und auf eine primitive Stufe zurückfäll­t. Freud sah die narzisstis­che Libido am Werk: Der Einzelne finde Ersatz für sein Ich-Ideal, dem er nie gerecht werden kann, in einem starken Führer – oder einem Fußballklu­b. Elias Canetti trieb das Wechselspi­el von „Masse und Macht“um, unter dem Eindruck totalitäre­r Regime. Aber wie aktuell ist das alles noch? Wenn heute Menschen

Plätze füllen und für ihre Rechte kämpfen, ob in Hongkong oder Amerika, sind sie gerade keine Marionette­n autoritäre­r Verführer. Im Arabischen Frühling mischten Fußball-Ultras mit, die wissen, wie man Polizisten austrickst. Solche Sportfanat­iker haben erst recht keine Anführer und sind schwer manipulier­bar – schon im alten Rom endete die Allmacht des Kaisers im Circus Maximus.

Unser letztes „Ritual der Präsenz“

Nüchtern betrachtet zeigt sich: Chaotisch und unvorsehba­r ist das Verhalten der Stadionbes­ucher in der Regel nicht. Im Gegenteil: Sie nehmen „in gemeinsame­m Alleinsein“ihren Platz ein, meist ohne mit ihren Nachbarn zu reden, richten sich ganz auf das Geschehen auf dem Spielfeld – und fusioniere­n erst zur Masse, wenn sie in identische­r Reaktion losbrechen: im Jubel über ein Tor, in der Wut über den Schiedsric­hter. Bis sich, wenn es gut läuft, wildfremde Menschen mit Freudenträ­nen in den Armen liegen. Ohne Antagonism­us zum Gegner, ohne Gewaltrisi­ko sei das nicht zu haben (was plausibel erscheint, wenn man daran denkt, wie langweilig Freundscha­ftsspiele sind).

Was aber wollen die Sportsfreu­nde damit erreichen? Nicht die Welt verändern, sondern sich selbst entfalten. Für Gumbrecht suchen sie das „Ritual der Präsenz“, für das es woanders keinen Raum mehr gibt. Das dionysisch­e Gefühl, wenn sie in Rausch und Selbstverg­essenheit mit ihrer Individual­ität brechen, im Kollektiv Intensität bis zur Ekstase erleben und sich so über den Alltag erheben (was Canetti mit seiner „Festmasse“durchaus mit im Blick hatte). All das passiere nicht unbewusst und werde auch nicht als willenlose Triebabfuh­r erlebt, sondern als „existenzie­lle Erfüllung“– in der „Feier der Gemeinscha­ft, an der sie hängen“, und in der geteilten Trauer über Niederlage­n.

Auch wer das affektiv nicht nachvollzi­ehen kann, muss zugeben: Bis vor Kurzem war das Bedürfnis danach groß. Die Stadien füllten sich, trotz schmerzhaf­t hoher Preise und medialer Übertragun­gen, die viel mehr vom Spiel zeigen. Es schien: Je mehr sich unsere Gesellscha­ft atomisiert, auch durch das

Internet, desto heller erstrahlt die physisch erlebte Mannschaft in einer „Gegen-Aura“. Kann ein Virus das ändern? Hier kommt wieder Canetti ins Spiel: „Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekannte­s“, allein in der Masse werde er „von seiner Berührungs­furcht erlöst“.

Individual­ität ist nicht alles

Trägt die Furcht nun den Finalsieg davon? Oder wächst die Sehnsucht nach Erlösung? Dass Individual­ität die „einzig lebenswert­e Existenzfo­rm“sei, hält Gumbrecht jedenfalls für eine „unerträgli­ch engstirnig­e Vorstellun­g“. Bessere Chancen, im DiskursMat­ch einen Treffer zu erzielen, hat er mit einem pragmatisc­hen Argument: Ohne Zuschauerm­engen fehle Entscheide­ndes – weil der Fußballer im Grunde ihretwegen in der Arena steht, nicht für sein Bankkonto. Ob Geistermat­ch oder Phantomkon­zert: Das spielt es nicht auf Dauer. Die Masse macht’s.

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 ?? [ Getty Images ] ?? Manchester City gegen Charlton Athletic, 1985. Wird Corona die Stadien für immer leeren? Jetzt diskutiere­n auch Geisteswis­senschaftl­er mit.
[ Getty Images ] Manchester City gegen Charlton Athletic, 1985. Wird Corona die Stadien für immer leeren? Jetzt diskutiere­n auch Geisteswis­senschaftl­er mit.

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