Warum es im Stadion die Masse macht
Essay. Intellektuelle zeigen der Masse in jedem DiskursMatch die rote Karte. Nun tritt der gelehrte Fußballfan Hans Ulrich Gumbrecht in „Crowds“zur Revanche an.
Fußball ohne Zuschauer? Ein neues Buch des gelehrten Fußballfans Hans Ulrich Gumbrecht beleuchtet die Wichtigkeit der Masse.
Der Ball rollt wieder, aber die Stadien bleiben leer. Über den Rasen hallen nur, bislang nie vernommen, die banalen, derben Sprüche der Spieler, die kaum anders klingen als am Kickplatz im Dorf. Sie gehen nicht mehr auf im vielstimmigen Chor auf den Rängen, im Anfeuern, Singen, Pfeifen, Klatschen und Trommeln der Fans. Weltweit sind Sportereignisse mit starker Zuschauerpräsenz wegen Corona verboten, wie auch Rockkonzerte oder Papstmessen.
Na bitte, es geht ja auch ohne, frohlocken ihre Verächter. Die aggressive Energie der geballten Masse hat zarte Gemüter immer befremdet, ja abgestoßen. Enthemmte, schwitzende, brüllende Horden machen ihnen Angst, durch sporadische Gewaltausbrüche fühlen sie sich bestätigt. Und haben nicht politische Massenbewegungen, angeführt von hypnotisierenden Rattenfängern, stets nur Unglück gebracht? Schon mehren sich Stimmen, man solle die Drehkreuze am Eingang auf Dauer blockieren. Isoliert vor dem Fernseher zuhause könnten Fans kein Unheil anrichten. Wenn es ihnen wirklich um den Sport geht, müsse das reichen. Und an leere Stadien würden wir uns ebenso gewöhnen wie an leere Kathedralen.
Es ist an der Zeit, dass auch die Gegenseite das wohl artikulierte Wort erhebt. Man kennt Hans Ulrich Gumbrecht, dessen Essay „Crowds“jüngst erschienen ist, als Literaturwissenschaftler und Publizisten, aber auch als Fan: von Borussia Dortmund und vom American Football-Klub in Stanford, wo er drei Jahrzehnte lang lehrte. Einer, für den „Stadionereignisse zum Besten gehören, was mir das Leben gegeben hat“. Der schon einmal Biergläser vom Tisch fegt, wenn seine Mannschaft im Duell gegen den Erzgegner verliert. Und der sich unter die wahren Fans in der Kurve mischt, voller Verachtung für die Sektschlürfer auf der VIP-Tribüne, die ein Spiel so gelassen genießen wie ein Kammerkonzert. Aber auch jemand, der die Last der Denktradition auf dem Buckel spürt.
Das bürgerliche Zeitalter prägte unser Selbstbild als Individuen, die sich voneinander unterscheiden sollen. Nietzsche wetterte gegen den „Herdentrieb“, Gustave Le Bon gegen den „Massenmenschen“, der seine Kritikfähigkeit verliert, sich wie ein Kind von Affekten treiben lässt und auf eine primitive Stufe zurückfällt. Freud sah die narzisstische Libido am Werk: Der Einzelne finde Ersatz für sein Ich-Ideal, dem er nie gerecht werden kann, in einem starken Führer – oder einem Fußballklub. Elias Canetti trieb das Wechselspiel von „Masse und Macht“um, unter dem Eindruck totalitärer Regime. Aber wie aktuell ist das alles noch? Wenn heute Menschen
Plätze füllen und für ihre Rechte kämpfen, ob in Hongkong oder Amerika, sind sie gerade keine Marionetten autoritärer Verführer. Im Arabischen Frühling mischten Fußball-Ultras mit, die wissen, wie man Polizisten austrickst. Solche Sportfanatiker haben erst recht keine Anführer und sind schwer manipulierbar – schon im alten Rom endete die Allmacht des Kaisers im Circus Maximus.
Unser letztes „Ritual der Präsenz“
Nüchtern betrachtet zeigt sich: Chaotisch und unvorsehbar ist das Verhalten der Stadionbesucher in der Regel nicht. Im Gegenteil: Sie nehmen „in gemeinsamem Alleinsein“ihren Platz ein, meist ohne mit ihren Nachbarn zu reden, richten sich ganz auf das Geschehen auf dem Spielfeld – und fusionieren erst zur Masse, wenn sie in identischer Reaktion losbrechen: im Jubel über ein Tor, in der Wut über den Schiedsrichter. Bis sich, wenn es gut läuft, wildfremde Menschen mit Freudentränen in den Armen liegen. Ohne Antagonismus zum Gegner, ohne Gewaltrisiko sei das nicht zu haben (was plausibel erscheint, wenn man daran denkt, wie langweilig Freundschaftsspiele sind).
Was aber wollen die Sportsfreunde damit erreichen? Nicht die Welt verändern, sondern sich selbst entfalten. Für Gumbrecht suchen sie das „Ritual der Präsenz“, für das es woanders keinen Raum mehr gibt. Das dionysische Gefühl, wenn sie in Rausch und Selbstvergessenheit mit ihrer Individualität brechen, im Kollektiv Intensität bis zur Ekstase erleben und sich so über den Alltag erheben (was Canetti mit seiner „Festmasse“durchaus mit im Blick hatte). All das passiere nicht unbewusst und werde auch nicht als willenlose Triebabfuhr erlebt, sondern als „existenzielle Erfüllung“– in der „Feier der Gemeinschaft, an der sie hängen“, und in der geteilten Trauer über Niederlagen.
Auch wer das affektiv nicht nachvollziehen kann, muss zugeben: Bis vor Kurzem war das Bedürfnis danach groß. Die Stadien füllten sich, trotz schmerzhaft hoher Preise und medialer Übertragungen, die viel mehr vom Spiel zeigen. Es schien: Je mehr sich unsere Gesellschaft atomisiert, auch durch das
Internet, desto heller erstrahlt die physisch erlebte Mannschaft in einer „Gegen-Aura“. Kann ein Virus das ändern? Hier kommt wieder Canetti ins Spiel: „Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes“, allein in der Masse werde er „von seiner Berührungsfurcht erlöst“.
Individualität ist nicht alles
Trägt die Furcht nun den Finalsieg davon? Oder wächst die Sehnsucht nach Erlösung? Dass Individualität die „einzig lebenswerte Existenzform“sei, hält Gumbrecht jedenfalls für eine „unerträglich engstirnige Vorstellung“. Bessere Chancen, im DiskursMatch einen Treffer zu erzielen, hat er mit einem pragmatischen Argument: Ohne Zuschauermengen fehle Entscheidendes – weil der Fußballer im Grunde ihretwegen in der Arena steht, nicht für sein Bankkonto. Ob Geistermatch oder Phantomkonzert: Das spielt es nicht auf Dauer. Die Masse macht’s.