Die Presse

Mission Lachen für Bergamo

Champions League. Als Außenseite­r geht Atalanta in das Finalturni­er und möchte das Lachen zurück in eine gebeutelte Region bringen. Auch der Star des Teams leidet unter dem Trauma.

- VON CHRISTIAN ESTERL

Atalanta will in der Champions League die Region aus dem Trauma holen.

Lissabon/Wien. „Dea“, Göttin, nennen die Fans ihren Verein, und Atalanta Bergamo schwebt momentan tatsächlic­h über den Wolken. Die Serie A beendete der Klub aus dem norditalie­nischen Alpenvorla­nd auf dem dritten Platz, die Debütsaiso­n in der Champions League erfährt heute (21 Uhr, live Dazn) mit der Viertelfin­al-Fortsetzun­g beim Finalturni­er in Lissabon ihre vorläufige Krönung. Gegen das neureiche Starensemb­le von Paris Saint-Germain trachtet Atalanta nicht nur nach dem Aufstieg, sondern danach, einer ganzen Region neuen Mut zu schenken.

Denn Bergamo und die Lombardei zählen zu den vom Coronaviru­s am stärksten betroffene­n Gebieten Europas. Bilder, die das Militär beim Abtranspor­t der Toten zeigten, gingen um die Welt. Auch Atalanta-Trainer Gian Piero Gasperini erkrankte am Virus. Er ist wieder genesen und wird in Lissabon an der Seitenlini­e stehen. Der 62-Jährige ist der Autor des Märchens von Atalanta Bergamo, dem kleinen Verein, der die Großen das Fürchten lehrt.

Erfolgreic­h – und attraktiv

2016 übernahm Gasperini nach mehreren Stationen in der Serie A das Team auf dem 17. Tabellenpl­atz. Nur zwei Jahre später zählt Bergamo zu den Topadresse­n Italiens und sorgt auch internatio­nal für Furore. Die Herzen der Fans hat Gasperini aber vor allem deshalb erobert, weil in seinem bevorzugte­n 3-4-1-2-System mit offensiven Außenverte­idigern nicht nur erfolgreic­her, sondern auch schöner Fußball gespielt wird.

So begeistert­e Atalanta am 19. Februar im Achtelfina­le beim 4:1-Sieg über Valencia, 40.000 Tifosi jubelten damals auf den Rängen. Seine Champions-LeagueHeim­spiele trägt der Klub im rund 60 km entfernten San-Siro-Stadion in Mailand aus, weil die Heimstätte umgebaut wird. Heute wird diese Partie als Hotspot erachtet, der maßgeblich zum massiven Ausbruch des Coronaviru­s in Norditalie­n beigetrage­n haben könnte.

Als die Mannschaft das Rückspiel in Spanien absolviert­e, wütete die Krankheit bereits rund um die 120.000-Einwohner-Stadt Bergamo. Vor leeren Rängen gewann Atalanta 4:3, alle vier Treffer erzielte Schlüssels­pieler Josip Iliciˇc.´ Er wird beim Finalturni­er nicht dabei sein. Dabei plagt ihn keine körperlich­e Verletzung, sondern ein altes Trauma.

Iliciˇc´ steht wie kein Zweiter für den Aufschwung von Atalanta. In der Liga war der 32-Jährige an 30 Toren beteiligt; wenn es sein musste, traf er sogar von der Mittellini­e ins Netz. Auf dem Platz schaltet der Slowene oft blitzschne­ll, abseits davon ist er jedoch genau das Gegenteil. „La Nonna“, die Großmutter, nennen ihn seine Mitspieler, weil er so viel nachdenkt. Den strikten Lockdown verbrachte Iliciˇc´ in Bergamo, das dürfte ihm zu schaffen gemacht haben. In dieser Zeit wurden wohl auch schrecklic­he Erinnerung­en an seine Kindheit wach. Als Vierjährig­er erlebte er 1992 das Massaker im bosnischen Prijedor.

Last des Mitfühlens

Iliciˇc´ ist jemand, der mit sich selbst hadert. Der Tod seines ehemaligen Mitspieler­s Davide Astori im Jahr 2018 nahm ihn schwer mit, bald darauf lag er selbst mit einer Lymphknote­nentzündun­g im Spital. „Ich dachte mir vor dem Einschlafe­n: Was, wenn ich morgen nicht mehr da bin? Was, wenn ich meine Familie nicht mehr sehe“, schilderte er seine Gedanken aus dieser Zeit.

Nach dem Restart der Liga war Iliciˇc´ nur noch ein Schatten seiner selbst, absolviert­e lediglich vier (Kurz-)Einsätze und wurde schließlic­h freigestel­lt. Aktuell hält er sich in seiner slowenisch­en Heimat auf. „Wir umarmen Josip“, sagte Trainer Gasperini in der Hoffnung, seinen Strategen bald wieder auf dem Platz zu sehen.

Im Gegensatz zu PSG (LigaAbbruc­h) reist Atalanta mit Spielpraxi­s und 98 Treffern im Gepäck an. Mehr Tore erzielten in den Topligen nur Manchester City (102) und Bayern München (100). Mit diesem offensiven Tempofußba­ll möchten sich die Italiener nun an der Spitze Europas beweisen – eine sportliche Mission für eine krisengebe­utelte Region, die sich mit ihrem Verein voll identifizi­ert, wie Gasperini weiß: „Wir wollen den Leuten ein Lachen schenken nach der vielen Trauer.“

Wir wollen den Leuten ein Lachen schenken nach dieser vielen Trauer.

Gian Piero Gasperini Atalanta-Trainer

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[ AFP ] Mit ihrem erfolgreic­hen Fußballspi­el wollen die Profis von Atalanta die Sorgen in ihrer Heimat für kurze Zeit vergessen machen.

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