Mission Lachen für Bergamo
Champions League. Als Außenseiter geht Atalanta in das Finalturnier und möchte das Lachen zurück in eine gebeutelte Region bringen. Auch der Star des Teams leidet unter dem Trauma.
Atalanta will in der Champions League die Region aus dem Trauma holen.
Lissabon/Wien. „Dea“, Göttin, nennen die Fans ihren Verein, und Atalanta Bergamo schwebt momentan tatsächlich über den Wolken. Die Serie A beendete der Klub aus dem norditalienischen Alpenvorland auf dem dritten Platz, die Debütsaison in der Champions League erfährt heute (21 Uhr, live Dazn) mit der Viertelfinal-Fortsetzung beim Finalturnier in Lissabon ihre vorläufige Krönung. Gegen das neureiche Starensemble von Paris Saint-Germain trachtet Atalanta nicht nur nach dem Aufstieg, sondern danach, einer ganzen Region neuen Mut zu schenken.
Denn Bergamo und die Lombardei zählen zu den vom Coronavirus am stärksten betroffenen Gebieten Europas. Bilder, die das Militär beim Abtransport der Toten zeigten, gingen um die Welt. Auch Atalanta-Trainer Gian Piero Gasperini erkrankte am Virus. Er ist wieder genesen und wird in Lissabon an der Seitenlinie stehen. Der 62-Jährige ist der Autor des Märchens von Atalanta Bergamo, dem kleinen Verein, der die Großen das Fürchten lehrt.
Erfolgreich – und attraktiv
2016 übernahm Gasperini nach mehreren Stationen in der Serie A das Team auf dem 17. Tabellenplatz. Nur zwei Jahre später zählt Bergamo zu den Topadressen Italiens und sorgt auch international für Furore. Die Herzen der Fans hat Gasperini aber vor allem deshalb erobert, weil in seinem bevorzugten 3-4-1-2-System mit offensiven Außenverteidigern nicht nur erfolgreicher, sondern auch schöner Fußball gespielt wird.
So begeisterte Atalanta am 19. Februar im Achtelfinale beim 4:1-Sieg über Valencia, 40.000 Tifosi jubelten damals auf den Rängen. Seine Champions-LeagueHeimspiele trägt der Klub im rund 60 km entfernten San-Siro-Stadion in Mailand aus, weil die Heimstätte umgebaut wird. Heute wird diese Partie als Hotspot erachtet, der maßgeblich zum massiven Ausbruch des Coronavirus in Norditalien beigetragen haben könnte.
Als die Mannschaft das Rückspiel in Spanien absolvierte, wütete die Krankheit bereits rund um die 120.000-Einwohner-Stadt Bergamo. Vor leeren Rängen gewann Atalanta 4:3, alle vier Treffer erzielte Schlüsselspieler Josip Iliciˇc.´ Er wird beim Finalturnier nicht dabei sein. Dabei plagt ihn keine körperliche Verletzung, sondern ein altes Trauma.
Iliciˇc´ steht wie kein Zweiter für den Aufschwung von Atalanta. In der Liga war der 32-Jährige an 30 Toren beteiligt; wenn es sein musste, traf er sogar von der Mittellinie ins Netz. Auf dem Platz schaltet der Slowene oft blitzschnell, abseits davon ist er jedoch genau das Gegenteil. „La Nonna“, die Großmutter, nennen ihn seine Mitspieler, weil er so viel nachdenkt. Den strikten Lockdown verbrachte Iliciˇc´ in Bergamo, das dürfte ihm zu schaffen gemacht haben. In dieser Zeit wurden wohl auch schreckliche Erinnerungen an seine Kindheit wach. Als Vierjähriger erlebte er 1992 das Massaker im bosnischen Prijedor.
Last des Mitfühlens
Iliciˇc´ ist jemand, der mit sich selbst hadert. Der Tod seines ehemaligen Mitspielers Davide Astori im Jahr 2018 nahm ihn schwer mit, bald darauf lag er selbst mit einer Lymphknotenentzündung im Spital. „Ich dachte mir vor dem Einschlafen: Was, wenn ich morgen nicht mehr da bin? Was, wenn ich meine Familie nicht mehr sehe“, schilderte er seine Gedanken aus dieser Zeit.
Nach dem Restart der Liga war Iliciˇc´ nur noch ein Schatten seiner selbst, absolvierte lediglich vier (Kurz-)Einsätze und wurde schließlich freigestellt. Aktuell hält er sich in seiner slowenischen Heimat auf. „Wir umarmen Josip“, sagte Trainer Gasperini in der Hoffnung, seinen Strategen bald wieder auf dem Platz zu sehen.
Im Gegensatz zu PSG (LigaAbbruch) reist Atalanta mit Spielpraxis und 98 Treffern im Gepäck an. Mehr Tore erzielten in den Topligen nur Manchester City (102) und Bayern München (100). Mit diesem offensiven Tempofußball möchten sich die Italiener nun an der Spitze Europas beweisen – eine sportliche Mission für eine krisengebeutelte Region, die sich mit ihrem Verein voll identifiziert, wie Gasperini weiß: „Wir wollen den Leuten ein Lachen schenken nach der vielen Trauer.“
Wir wollen den Leuten ein Lachen schenken nach dieser vielen Trauer.
Gian Piero Gasperini Atalanta-Trainer