Im Home-Office gibt es keine Stechuhr mehr
Corona wird die Arbeitswelt nachhaltig verändern. Mehr Home-Office, mehr Selbstverantwortung, mehr Flexibilität. Das hat auch Folgen für die Politik.
Es ist die wohl gängigste Plattitüde der Welt – jene von der Krise als Chance. Was aber sicherlich stimmt, ist, dass Krisen oft gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringen. Veränderungen, die in ihrer Tragweite im ersten Moment nicht erkennbar sind. So sorgte etwa die Finanzkrise vor nunmehr fast zwölf Jahren dafür, dass in südlichen Ländern wie Italien die Jugendarbeitslosigkeit stark anstieg. Das führte dazu, dass immer mehr Menschen aus finanziellen Gründen auch mit über 30 noch bei ihren Eltern wohnen blieben, was wiederum noch heute deutliche Auswirkungen auf den Immobilienmarkt und die Familiengründungen hat.
Eine noch wesentlich größere Veränderung beschert uns die Coronapandemie, indem sie die bereits zuvor voranschreitende Digitalisierung massiv beschleunigt – vor allem in der Arbeitswelt. So zwang der Lockdown viele Firmen dazu, von einem Tag auf den anderen den Betrieb auf Home-Office umzustellen. Statt Besprechungen gab es Videokonferenzen, Dienstreisen wurden gestrichen oder ebenfalls durch virtuelle Treffen ersetzt. Und was viele – vor allem ältere Manager – verwunderte: Es funktionierte dennoch.
Oft sogar noch besser. Wie erste Studien zu dem Thema zeigen, wurde mitunter sogar die Produktivität gesteigert, weil etwa unnötige Meetings entfielen. Eine Erfahrung, die nicht nur die Mitarbeiter auf den unteren und mittleren Ebenen machten, sondern auch jene in den Vorstandsetagen. „Ich bin manchmal erheblich produktiver“, erklärte jüngst etwa Oliver Bäte, Chef des deutschen 150.000-Mitarbeiter-Konzerns Allianz.
Nach Ende des Lockdown war die Reaktion der Firmen unterschiedlich. Während manche schnell zurück zur einstigen Normalität wollten und die meisten in einer Hybridvariante verharren, erklären immer mehr Firmen, das örtlich flexible Arbeiten forcieren zu wollen. Vorreiter sind US-Tech-Konzerne wie Google, wo Home-Office bereits bis Juli 2021 verlängert wurde. Aber auch Firmen aus konservativen Branchen wie Banken und Versicherungen stellen dauerhaft auf verstärktes Home-Office um. Eine Entwicklung, die sich noch beschleunigen dürfte, sollten im Herbst die Infektionszahlen steigen.
Das wird große Auswirkungen haben – etwa für die Immobilienbranche. Denn natürlich gibt es für Firmen nun den Anreiz, weniger Büroflächen zu nutzen. Experten schätzen, dass es einen Rückgang um 20 bis 30 Prozent der benötigten Fläche geben wird. Unternehmen, die sich auf die Büro-Vermietung spezialisiert haben, gehören an den Börsen schon zu den großen Verlierern. Im Gegenzug können nun etwas abseits liegende Wohngebiete an Attraktivität gewinnen. Eine Nähe zur Stadt ist nicht mehr so dringend notwendig, wenn die Internetverbindung schnell genug ist.
Noch wesentlich gravierender sind natürlich die Folgen in der Arbeitswelt selbst. Die örtliche Trennung von der Firma bedeutet mehr Selbstständigkeit und Flexibilität. Das bringt große Vorteile – etwa in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie –, aber auch Risken. So kann die Abgrenzung zwischen privatem und beruflichem Leben verschwimmen. In Zeiten, in denen der von vielen Menschen gefühlte Leistungsdruck zu einer Zunahme des Burn-out-Syndroms führt, eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Unternehmen wie etwa VW haben darauf schon vor Jahren reagiert, indem etwa Mails nach einer gewissen Zeit nicht mehr weitergeleitet werden.
Hier ein optimales Gleichgewicht zwischen den Anforderungen der neuen digitalen Arbeitswelt und den Bedürfnissen der darin arbeitenden Menschen zu finden, wird eine große Herausforderung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer sein. Die gegenwärtigen Arbeitszeitgesetze sind dabei nicht hilfreich. Denn in einer Welt, in der selbstverantwortlich Aufgaben im Home-Office bearbeitet werden, passt ein Rechtsrahmen, bei dem es vornehmlich um die körperliche Anwesenheit in den Räumen des Unternehmens geht, einfach nicht mehr. Hier muss die Politik schnell aktiv werden. Sonst drohen Probleme wie beim Datenschutz oder Urheberrecht, wo die Gesetze aus dem 20. Jahrhundert für die Welt des 21. nicht mehr tauglich waren. Mehr zum Thema: