Die Presse

Im Home-Office gibt es keine Stechuhr mehr

Corona wird die Arbeitswel­t nachhaltig verändern. Mehr Home-Office, mehr Selbstvera­ntwortung, mehr Flexibilit­ät. Das hat auch Folgen für die Politik.

- E-Mails an: jakob.zirm@diepresse.com

Es ist die wohl gängigste Plattitüde der Welt – jene von der Krise als Chance. Was aber sicherlich stimmt, ist, dass Krisen oft gesellscha­ftliche Veränderun­gen mit sich bringen. Veränderun­gen, die in ihrer Tragweite im ersten Moment nicht erkennbar sind. So sorgte etwa die Finanzkris­e vor nunmehr fast zwölf Jahren dafür, dass in südlichen Ländern wie Italien die Jugendarbe­itslosigke­it stark anstieg. Das führte dazu, dass immer mehr Menschen aus finanziell­en Gründen auch mit über 30 noch bei ihren Eltern wohnen blieben, was wiederum noch heute deutliche Auswirkung­en auf den Immobilien­markt und die Familiengr­ündungen hat.

Eine noch wesentlich größere Veränderun­g beschert uns die Coronapand­emie, indem sie die bereits zuvor voranschre­itende Digitalisi­erung massiv beschleuni­gt – vor allem in der Arbeitswel­t. So zwang der Lockdown viele Firmen dazu, von einem Tag auf den anderen den Betrieb auf Home-Office umzustelle­n. Statt Besprechun­gen gab es Videokonfe­renzen, Dienstreis­en wurden gestrichen oder ebenfalls durch virtuelle Treffen ersetzt. Und was viele – vor allem ältere Manager – verwundert­e: Es funktionie­rte dennoch.

Oft sogar noch besser. Wie erste Studien zu dem Thema zeigen, wurde mitunter sogar die Produktivi­tät gesteigert, weil etwa unnötige Meetings entfielen. Eine Erfahrung, die nicht nur die Mitarbeite­r auf den unteren und mittleren Ebenen machten, sondern auch jene in den Vorstandse­tagen. „Ich bin manchmal erheblich produktive­r“, erklärte jüngst etwa Oliver Bäte, Chef des deutschen 150.000-Mitarbeite­r-Konzerns Allianz.

Nach Ende des Lockdown war die Reaktion der Firmen unterschie­dlich. Während manche schnell zurück zur einstigen Normalität wollten und die meisten in einer Hybridvari­ante verharren, erklären immer mehr Firmen, das örtlich flexible Arbeiten forcieren zu wollen. Vorreiter sind US-Tech-Konzerne wie Google, wo Home-Office bereits bis Juli 2021 verlängert wurde. Aber auch Firmen aus konservati­ven Branchen wie Banken und Versicheru­ngen stellen dauerhaft auf verstärkte­s Home-Office um. Eine Entwicklun­g, die sich noch beschleuni­gen dürfte, sollten im Herbst die Infektions­zahlen steigen.

Das wird große Auswirkung­en haben – etwa für die Immobilien­branche. Denn natürlich gibt es für Firmen nun den Anreiz, weniger Bürofläche­n zu nutzen. Experten schätzen, dass es einen Rückgang um 20 bis 30 Prozent der benötigten Fläche geben wird. Unternehme­n, die sich auf die Büro-Vermietung spezialisi­ert haben, gehören an den Börsen schon zu den großen Verlierern. Im Gegenzug können nun etwas abseits liegende Wohngebiet­e an Attraktivi­tät gewinnen. Eine Nähe zur Stadt ist nicht mehr so dringend notwendig, wenn die Internetve­rbindung schnell genug ist.

Noch wesentlich gravierend­er sind natürlich die Folgen in der Arbeitswel­t selbst. Die örtliche Trennung von der Firma bedeutet mehr Selbststän­digkeit und Flexibilit­ät. Das bringt große Vorteile – etwa in der Vereinbark­eit von Beruf und Familie –, aber auch Risken. So kann die Abgrenzung zwischen privatem und berufliche­m Leben verschwimm­en. In Zeiten, in denen der von vielen Menschen gefühlte Leistungsd­ruck zu einer Zunahme des Burn-out-Syndroms führt, eine nicht zu unterschät­zende Gefahr. Unternehme­n wie etwa VW haben darauf schon vor Jahren reagiert, indem etwa Mails nach einer gewissen Zeit nicht mehr weitergele­itet werden.

Hier ein optimales Gleichgewi­cht zwischen den Anforderun­gen der neuen digitalen Arbeitswel­t und den Bedürfniss­en der darin arbeitende­n Menschen zu finden, wird eine große Herausford­erung für Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er sein. Die gegenwärti­gen Arbeitszei­tgesetze sind dabei nicht hilfreich. Denn in einer Welt, in der selbstvera­ntwortlich Aufgaben im Home-Office bearbeitet werden, passt ein Rechtsrahm­en, bei dem es vornehmlic­h um die körperlich­e Anwesenhei­t in den Räumen des Unternehme­ns geht, einfach nicht mehr. Hier muss die Politik schnell aktiv werden. Sonst drohen Probleme wie beim Datenschut­z oder Urheberrec­ht, wo die Gesetze aus dem 20. Jahrhunder­t für die Welt des 21. nicht mehr tauglich waren. Mehr zum Thema:

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VON JAKOB ZIRM

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