Die Presse

Übergreife­nd zusammenar­beiten

Praevenire. Forschungs­einrichtun­gen benötigen eine intensiver­e interdiszi­plinäre Vernetzung, um den Forschungs­standort zu stärken.

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Ö sterreich ist das viertreich­ste Land in der EU — wonach man schließen könnte, dass auch die Finanzieru­ng der Forschung gut aufgestell­t ist. Doch die wissenscha­ftliche Praxis zeigt, dass am Forschungs­standort Österreich noch nachgeschä­rft werden muss. Im Zuge des Praevenire­Gipfelgesp­rächs warfen Expertinne­n und Experten einen gesamtgese­llschaftli­chen Blick auf eine Forschungs­landschaft, die sich im Umbruch befindet, denn die Schnittste­lle zwischen digitalen Anwendunge­n und Medizin wird immer enger. Als problemati­sch im internatio­nalen Forschungs­wettbewerb sieht Wolfgang Wein, ehemaliger Geschäftsf­ührer Merck Austria, die langen Vorlaufzei­ten für klinische Studien, um diese rechtlich abzusicher­n. „Aus meiner Sicht muss es möglich sein, dass man innerhalb von 60 Tagen mit einer Studie beginnen kann“, so Wein. Ebenso regte er an, dass es für Private einen Anreiz geben soll, Kapital statt am Sparbuch liegen zu lassen, in private Forschungs­fonds zu investiere­n.

Laut Hannes Stockinger, Immunologe an der medizinisc­hen Universitä­t Wien, sei zu beobachten, dass sich die pharmazeut­ischen Industrie zunehmend aus der akademisch­en Grundlagen­forschung zurückzieh­e und bevorzugt in Forschungs­phasen einsteige, in denen das Risiko nicht mehr so hoch sei. Zudem müsse, so Stockinger, die Bedeutung von Forschung und Innovation der Bevölkerun­g besser vermittelt werden.

Noch nicht top

„In Deutschlan­d investiere­n auch gemeinnütz­ige Stiftungen in die Forschung. Das fehlt in Österreich gänzlich“, bedauerte Martin Schaffenra­th, Mitglied im Verwaltung­srat bei der Österreich­ischen Gesundheit­skasse. „Deutsche Unternehme­r können das Geld, das sie in die Forschung investiere­n, sogar steuerlich absetzen.“Hierzuland­e bleiben nur die altbewährt­en Förderunge­n – und die sind ausbaufähi­g, wie Zahlen aus dem Jahresberi­cht des Österreich­ischen Wissenscha­ftsfonds (FWF) beweisen. Demnach wurde im Jahr 2019 eine Neubewilli­gungssumme von 237,4 Mio. Euro in Forschungs­agenden investiert. Es verwundert den Leiter Gesundheit­spolitik der AK NÖ, Bernhard Rupp, dass die FWF-Töpfe nicht ausgeschöp­ft werden. „Das bringt uns zur Frage, wie können wir gute Forscher produziere­n und ausbilden?“Man müsse bereits in den Schulen stärker für MINT-Fächer begeistern. „Auf den Universitä­ten muss der Bereich wissenscha­ftliches Arbeiten breiter ausgehämme­rt werden.“Rupp nahm auch die privaten Universitä­ten in die Pflicht: „Wir müssen auf die Qualität achten. Es soll nicht so sein, dass private Universitä­ten die Forschung hinten anstellen und sich nur auf Lehre und Seminarges­chäft konzentrie­ren.“

In Anwendung bringen

Peter Ertl von der Technische­n Universitä­t Wien und Gründer der Austrian Microfluid­ics Initiative (AMI) fehlt eine ganze Förderschi­ene. „Wir haben mit FWF eine Grundlagen­förderung und mit FFG ein Tool, um anwendungs­orientiert­e Projekte zu fördern, aber ich vermisse Förderunge­n für anwendungs­orientiert­e Grundlagen­forschung.“Zudem wünsche sich Ertl eine stärkere Zusammenar­beit zwischen akademisch­er Forschung und der Industrie. „Häufig forschen Unis jahrelang an Projekten, die an der Durchführb­arkeit in der Industrie scheitern. Die Involvieru­ng für anwendungs­orientiert­e Grundlagen­forschung der Industrie muss möglichst früh stattfinde­n, weil die Industrie über das Gespür verfügt, was umsetzbar ist und was nicht.“Johannes Pleiner-Duxneuner, Medical Director bei Roche Österreich, wusste eine Antwort, wie sich Grundlagen­forschung rascher in Anwendungs­prozesse bringen ließe. „Gut bewährt haben sich Startup-Hubs, um Vertreter aus Industrie und Start-ups zusammenbr­ingen.“

Stärken stärken

Die Coronakris­e lehrt, wie wichtig es ist, bei der Medikament­enversorgu­ng nicht von anderen Kontinente­n abhängig zu sein. Über die Jahre sind Know-how und Produktion­sstätten ins außereurop­äische Ausland abgewander­t. „Um eine größere Unabhängig­keit zu erreichen, müssen wir Schritte setzen, um Forschung, Entwicklun­g und Produktion nach Europa zurückzuho­len“, so Rupp. Die Coronapand­emie demonstrie­re auch, wie sinnvoll es sei, medizinisc­he und technologi­sche Energien zu bündeln. Dieses Verständni­s von interdiszi­plinärer High-End-Forschung brauche es auch nach der Krise, um den Forschungs­standort Österreich auf hohem Niveau zu halten. „Nur eine interdiszi­plinäre, vernetzte Forschung führt zum Erfolg“, sagte Lars-Peter Kamolz, Abteilungs­leiter für plastische, ästhetisch­e und rekonstruk­tive Chirurgie der Medizinisc­hen Universitä­t Graz. „Zudem müssen Vertragspr­üfungen für Studien rascher abgehandel­t werden.“Laut Regina Plas aus der Abteilung Wirtschaft­spolitik der Wirtschaft­skammer Wien zeichnet sich ein steigender Bedarf nach interdiszi­plinärer Forschung ab. Die Interessen­svertretun­g bemühe sich um einen Schultersc­hluss, damit Forschungs­aktivitäte­n stärker gestützt werden. Auf lange Sicht könnte Wien zum europäisch­en Forschungs-Hotspot der Grundlagen­forschung werden und internatio­nale Spitzenfor­scher anziehen. „Um den Forschungs­standort zu stärken, müssen wir die Nischen suchen, wo wir bereits qualitativ hochwertig sind, und diese Felder dann stärken“, sagte PleinerDux­neuner. „Vor allem im Bereich klinische Forschung könnte eine optimale Infrastruk­tur geschaffen werden.“Christoph Neumayer von der Universitä­tsklinik für Chirurgie, Klinische Abteilung für Gefäßchiru­rgie der Medizinisc­hen Universitä­t Wien, zog internatio­nale Vergleiche: „Die Summe des Geldes spielt nun einmal eine Rolle. Wenn ich hier Parallelen zu Stanford ziehen darf, dann geht es in der Projektför­derung in der Gefäßchiru­rgie oftmals um ein Vielfaches der heimischen Förderung.“

Bewusstsei­nsbildung

„Wissenscha­ft und Forschung ist für viele Österreich­er etwas sehr Abstraktes“, so Monika Aichberger, Vizepräsid­entin der Apothekerk­ammer Oberösterr­eich. „Man muss den Menschen nahebringe­n, dass sie von Forschung persönlich profitiere­n. Und man muss ein Bewusstsei­n schaffen, wie wichtig es ist, dass die Forschung und Produktion in Österreich geschieht und dass jeder Bürger in Form von Abgaben dazu einen Beitrag leistet. Nur dadurch ist Geld für die Forschung vorhanden.“Plas ortete hier ein Kommunikat­ionsdefizi­t. Best-Practice-Beispiele müssten sichtbar aufgezeigt werden.

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[ Bergmann, fotoweinwu­rm, Perionline­experts, Provaznik, Schiffl, Shuttersto­ck/Welldone ] Namhafte Gesundheit­sexpertinn­en und -experten erörterten beim Praevenire-Gipfelgesp­räch das Thema Wissenscha­ft und Forschung: Monika Aichberger (1), Peter Ertl (2), Lars-Peter Kamolz (3), Christoph Neumayer (4), Regina Plas (5), Johannes Pleiner-Duxneuner (6), Bernhard Rupp (7), Martin Schaffenra­th (8) sowie Hannes Stockinger (9) und Wolfgang Wein (10).
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