Die Presse

Briten bringen EU höhere CO2-Ziele

Brexit. Großbritan­nien plant einen eigenen CO2-Markt. Verabschie­den sich die britischen Musterschü­ler von der EU-Klimapolit­ik, wird die Aufgabe für die übrigen Mitglieder sehr viel schwerer.

- VON MATTHIAS AUER

Wien. Fünf Monate nach dem großen Lockdown verdeckt die Coronapand­emie immer noch so ziemlich jedes andere Thema in der Öffentlich­keit. Fast unbemerkt geht etwa der Kampf gegen den Klimawande­l weiter, und auch die Uhr für die Nach-Brexit-Verhandlun­gen tickt lauter und lauter. In der Kombinatio­n dieser beiden „vergessene­n“Aufreger braut sich etwas zusammen, das die verblieben­en EUMitglied­er – darunter Österreich – noch Jahre beschäftig­en könnte.

Denn Ende des Jahres läuft mit den letzten Übergangsr­egelungen nicht nur die Zeit der Briten als Mitglieder der Europäisch­en Union endgültig ab. Nach heutigem Stand dürfte das Vereinigte Königreich dann auch den europäisch­en Markt für CO2-Zertifikat­e (ETS) verlassen. Zwar will die britische Regierung weiter am Ziel der Dekarbonis­ierung der Industrie bis 2050 festhalten – und verspricht dafür vorerst 350 Millionen Pfund (389,5 Millionen Euro). Aber wie das genau geschehen soll, will London künftig lieber selbst entscheide­n.

Einen endgültige­n Plan gibt es noch nicht. Theoretisc­h könnte die Regierung um Premier Boris Johnson eine CO2-Steuer für die Industrie einführen. Wahrschein­licher ist aber, dass die Briten einen nationalen Emissionsh­andel aufbauen werden. Die Vorbereitu­ngen dafür laufen jedenfalls bereits auf Hochtouren. Seit Mitte Juli gibt es auch einen entspreche­nden Gesetzesen­twurf, wonach die 1000 größten Kohlendiox­idemittent­en (und die Airlines) des Landes für ihren CO2Ausstoß künftig britische statt europäisch­er Zertifikat­e vorweisen müssten.

Musterschü­ler auf dem Papier

Geht es nach dem Willen der meisten Klimaexper­ten, kommt es aber ohnedies anders: Noch könnten sich die Briten umentschei­den, und – so wie Norwegen, Island oder Liechtenst­ein – als Nicht-EUMitglied Teil des europäisch­en Emissionsh­andels bleiben.

Ganz egal, für welche Variante sich London entscheide­t: Verabschie­det sich Großbritan­nien mit dem Brexit auch von der gemeinsame­n Klimaschut­zpolitik der EU, bringt das große Probleme für die verblieben­en Mitgliedst­aaten mit sich. Denn mit Großbritan­nien kommt Europa zumindest ein statistisc­her Klimaschut­z-Musterschü­ler abhanden. Ohne den Beitrag des Landes wird es die EU sehr schwer haben, ihre selbst gesteckten Klimaziele bis 2030 zu erreichen. In zehn Jahren will die Union bekanntlic­h um 40 Prozent weniger

CO2 ausstoßen als 1990. Dass die EU bisher ganz gut auf Kurs lag, verdankt sie zu einem nicht unwesentli­chen Teil der Entwicklun­g in Großbritan­nien.

Im Referenzja­hr 1990 war das Land noch voll Industrie, zwei Drittel des Stroms lieferten klimaschäd­liche Kohlekraft­werke. 600 Millionen Tonnen Kohlendiox­id stieß das Königreich damals aus. Nur Deutschlan­d lastete damals noch schwerer auf Europas Klimabilan­z.

Die Brexit-Lücke für das Klima

Seitdem ist viel passiert: Die Industrie im Königreich wich der Finanzbran­che, die alten Kohlekraft­werke wurden durch umweltfreu­ndlichere Windparks und Gaskraftwe­rke ersetzt. Zwischen 1990 und 2018 verbessert­e sich die Treibhausg­asbilanz des Landes um 40,8 Prozent. Bis 2030 dürfte das Minus auf 57 Prozent anwachsen. Die gesamte EU konnte ihre Emissionen in derselben Zeit nur um 23,5 Prozent verringern. Österreich stieß zuletzt sogar mehr Treibhausg­ase aus als Anfang der Neunziger.

Ohne die Reduktione­n der Briten müssten die verblieben­en EUMitglied­er nach Berechnung­en des Energiekon­zerns Steag 136 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent­e zusätzlich abbauen, um das 2030-Ziel zu erreichen. Folgt Brüssel den bisherigen Plänen und schärft auch die Ziele selbst nach, wachse die Lücke auf 360 Millionen Tonnen – und den EU-Mitglieder­n würde die Latte gleich zweimal höher gelegt.

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[ imago ] Seit 1990 hat Großbritan­nien seine Emissionen um 40 Prozent gesenkt.

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