Briten bringen EU höhere CO2-Ziele
Brexit. Großbritannien plant einen eigenen CO2-Markt. Verabschieden sich die britischen Musterschüler von der EU-Klimapolitik, wird die Aufgabe für die übrigen Mitglieder sehr viel schwerer.
Wien. Fünf Monate nach dem großen Lockdown verdeckt die Coronapandemie immer noch so ziemlich jedes andere Thema in der Öffentlichkeit. Fast unbemerkt geht etwa der Kampf gegen den Klimawandel weiter, und auch die Uhr für die Nach-Brexit-Verhandlungen tickt lauter und lauter. In der Kombination dieser beiden „vergessenen“Aufreger braut sich etwas zusammen, das die verbliebenen EUMitglieder – darunter Österreich – noch Jahre beschäftigen könnte.
Denn Ende des Jahres läuft mit den letzten Übergangsregelungen nicht nur die Zeit der Briten als Mitglieder der Europäischen Union endgültig ab. Nach heutigem Stand dürfte das Vereinigte Königreich dann auch den europäischen Markt für CO2-Zertifikate (ETS) verlassen. Zwar will die britische Regierung weiter am Ziel der Dekarbonisierung der Industrie bis 2050 festhalten – und verspricht dafür vorerst 350 Millionen Pfund (389,5 Millionen Euro). Aber wie das genau geschehen soll, will London künftig lieber selbst entscheiden.
Einen endgültigen Plan gibt es noch nicht. Theoretisch könnte die Regierung um Premier Boris Johnson eine CO2-Steuer für die Industrie einführen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Briten einen nationalen Emissionshandel aufbauen werden. Die Vorbereitungen dafür laufen jedenfalls bereits auf Hochtouren. Seit Mitte Juli gibt es auch einen entsprechenden Gesetzesentwurf, wonach die 1000 größten Kohlendioxidemittenten (und die Airlines) des Landes für ihren CO2Ausstoß künftig britische statt europäischer Zertifikate vorweisen müssten.
Musterschüler auf dem Papier
Geht es nach dem Willen der meisten Klimaexperten, kommt es aber ohnedies anders: Noch könnten sich die Briten umentscheiden, und – so wie Norwegen, Island oder Liechtenstein – als Nicht-EUMitglied Teil des europäischen Emissionshandels bleiben.
Ganz egal, für welche Variante sich London entscheidet: Verabschiedet sich Großbritannien mit dem Brexit auch von der gemeinsamen Klimaschutzpolitik der EU, bringt das große Probleme für die verbliebenen Mitgliedstaaten mit sich. Denn mit Großbritannien kommt Europa zumindest ein statistischer Klimaschutz-Musterschüler abhanden. Ohne den Beitrag des Landes wird es die EU sehr schwer haben, ihre selbst gesteckten Klimaziele bis 2030 zu erreichen. In zehn Jahren will die Union bekanntlich um 40 Prozent weniger
CO2 ausstoßen als 1990. Dass die EU bisher ganz gut auf Kurs lag, verdankt sie zu einem nicht unwesentlichen Teil der Entwicklung in Großbritannien.
Im Referenzjahr 1990 war das Land noch voll Industrie, zwei Drittel des Stroms lieferten klimaschädliche Kohlekraftwerke. 600 Millionen Tonnen Kohlendioxid stieß das Königreich damals aus. Nur Deutschland lastete damals noch schwerer auf Europas Klimabilanz.
Die Brexit-Lücke für das Klima
Seitdem ist viel passiert: Die Industrie im Königreich wich der Finanzbranche, die alten Kohlekraftwerke wurden durch umweltfreundlichere Windparks und Gaskraftwerke ersetzt. Zwischen 1990 und 2018 verbesserte sich die Treibhausgasbilanz des Landes um 40,8 Prozent. Bis 2030 dürfte das Minus auf 57 Prozent anwachsen. Die gesamte EU konnte ihre Emissionen in derselben Zeit nur um 23,5 Prozent verringern. Österreich stieß zuletzt sogar mehr Treibhausgase aus als Anfang der Neunziger.
Ohne die Reduktionen der Briten müssten die verbliebenen EUMitglieder nach Berechnungen des Energiekonzerns Steag 136 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente zusätzlich abbauen, um das 2030-Ziel zu erreichen. Folgt Brüssel den bisherigen Plänen und schärft auch die Ziele selbst nach, wachse die Lücke auf 360 Millionen Tonnen – und den EU-Mitgliedern würde die Latte gleich zweimal höher gelegt.