Eine neue EU nach der Coronakrise
Gastkommentar. Das Coronavirus hat in der EU Entwicklungen ermöglicht, die bisher für unmöglich gehalten worden sind.
Das Coronavirus verändert die Welt in vielfältiger Weise – und es hat in der EU Entwicklungen ermöglicht, die bisher als unmöglich galten. Die EU wächst – wie immer in Krisen – über sich hinaus. Nach der Schuldenkrise im Euroraum ab 2010 wurde mehrfach als Ergänzung zur Bankenunion eine Fiskalunion angedacht. Frankreichs Präsident Macron hat 2017 in seiner berühmten SorbonneRede einen eigenen Finanzminister für den Euroraum gefordert; eine Transferunion wurde aber immer ausgeschlossen. Eurobonds wurden schon mehrfach zur Sprache gebracht. Bisher scheiterten all diese Vorschläge an Deutschlands Nein.
Die Coronakrise hat eine Wende herbeigeführt. Unter dem ehrenvollen Vorwand der Solidarität mit den am meisten (unverschuldet) von der Coronakrise betroffenen Ländern des Südens ist Deutschland über den eigenen Schatten gesprungen und hat der EU (nicht nur dem Euroraum) erlaubt, sich zu verschulden. Zur Finanzierung des 750 Milliarden Euro schweren Europäischen Aufbauplans wird die Kommission von 2021 bis 2024 durch Ausgabe von „EU- oder CoronaAnleihen“Mittel auf den Finanzmärkten aufnehmen. Die Rückzahlung soll durch die Einführung neuer Eigenmittel (Plastiksteuer, CO2-Grenzabgabe, Ausweitung des Emissionshandelssystems, Besteuerung von Großunternehmen) erfolgen. Schon diese Neuerung bedeutet einen Einstieg in eine Fiskalunion. Die Tatsache, dass die Mittel des EUAufbauplans zur Verteilung an die von der Coronakrise am stärksten betroffenen Länder verwendet werden, bedeutet, dass die EU zu der bisher verpönten Transferunion wird. Natürlich ist der Einstieg in eine Fiskal- und Transferunion zeitlich begrenzt. Aber man kann sich vorstellen, dass die „Einstiegsdroge“Corona-Aufbauplan auch bei künftigen Krisen analog angewendet wird. Schritt eins ist getan.
Der EU-Recovery-Plan ist in den mittelfristigen Finanzrahmen von 2021 bis 2027 im Ausmaß von 1074,3 Mrd. Euro integriert, womit der EU-27 mittelfristig 1,8 Billionen Euro für Reformvorhaben zur Verfügung stehen. Unter der Annahme, dass nur 50 Prozent der Kreditmittel aus dem EU-Recovery-Plan und 100 Prozent der Zuschüsse für öffentliche Investitionen verwendet werden, schätzt die Kommission, dass das reale BIP von EU-27 im Jahr 2024 zwischen einem und 2,3 Prozent höher liegen wird als ohne Rettungsplan. Die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament müssen noch zustimmen. Letzteres wünscht sich weniger Kürzungen bei Zukunftsausgaben im Mittelfristigen Finanzrahmen 2021–2027 (Klimaschutz, Forschung, Erasmus, Gesundheit) und ein klareres Bekenntnis zur „Konditionalisierung“von Rechtsstaatlichkeit.
Weniger hierarchische EU?
Die EU nach Brexit und Corona ist weniger hierarchisch und demokratischer geworden. Sie wird denn auch von manchen Experten in der derzeitigen Verfasstheit (kein Staat, sondern nur ein Staatenverbund) als besser geeignet für die heutigen Anforderungen eingeschätzt als die chaotisch agierenden USA und das autoritäre China. Der Ratsgipfel im Juli hat gezeigt, dass es jetzt statt dem bisherigen deutsch-französischen Machtzentrum deren vier gibt: die Achse Berlin–Paris gab auch dieses Mal die Richtung für die Rettung in der Krise vor. Die zweite neue Gruppe bilden die „frugalen 4+1“. Sie waren dieses Mal die Neinsager. Gruppe drei sind die Visegrad-´Staaten, dominiert von Polen und Ungarn, die mit Rechtsstaatsverfahren der Kommission konfrontiert sind. Die vierte Gruppe sind die Südstaaten, die kaum erholt von der Eurokrise nun an einer zweiten, der Coronakrise laborieren.
Fritz Breuss ist Jean-Monnet-Professor für wirtschaftliche Aspekte der Europäischen Integration an der WU.