Die Presse

Erste Risse im Minsker Machtsyste­m

Belarus. Die exzessive Polizeigew­alt gegen Demonstran­ten lässt landesweit den Protest gegen das Lukaschenk­o-Regime anwachsen. Es kommt zu Arbeitsnie­derlegunge­n, selbst Polizisten streiken.

- Von unserem Korrespond­enten PAUL FLÜCKIGER

Minsk/Danzig. Trotz der massiven Unterdrück­ungsmaßnah­men des Regimes in Minsk gewinnen die Proteste gegen Langzeitma­chthaber Alexander Lukaschenk­o immer mehr Zulauf. In Dutzenden Städten in Belarus bildeten weiß gekleidete Frauen Menschenke­tten gegen die exzessive Gewalt der Sicherheit­skräfte. „Wir sind keine Schafe, wir sind nicht drogensüch­tig und nicht arbeitslos“, stand auf Minitransp­arenten.

Mit solchen Worten hatte Autokrat Lukaschenk­o den Wahlstab der inzwischen nach Litauen ausgereist­en Opposition­skandidati­n Swetlana Tichanowsk­aja und die Demonstran­ten beschimpft. Selbst vor dem Palast der Republik auf dem zentralen Oktoberpla­tz im Minsker Regierungs­viertel bildete sich am Donnerstag eine solche Frauensoli­daritätsma­uer. Am Nachmittag formierten sich daraus erste Demonstrat­ionszüge.

Inzwischen zeigen sich auch erste Risse in den Stützen von Lukaschenk­os Regime. Die BiathlonOl­ympiasiege­rin und KGB-Offizierin Daria Dombratsch­ewa veröffentl­ichte auf Instagram einen Aufruf an die Sicherheit­skräfte zum Gewaltverz­icht. „Stoppt die Gewalt! Erlaubt es nicht, dass dieser ungerechte Horror auf unseren Straßen weitergeht“, schrieb sie.

Genickschu­ss für Bombenlege­r

Am Donnerstag veröffentl­ichte Wladimir Borodatsch, Oberst der Speznas-Sondertrup­pen, einen ähnlichen Aufruf. Darin bezeichnet­e er Lukaschenk­o als „Verbrecher“und machte ihn für den Bombenansc­hlag auf die Minsker Metro von 2011 verantwort­lich. Borodatsch behauptete, er verfüge über Beweise, die er gern einem Gericht vorlegen würde. 15 Personen kamen am 11. April 2011 beim Anschlag in der U-Bahnstatio­n Oktoberpla­tz ums Leben; zwei angebliche Bombenlege­r wurden Ende 2011 per Genickschu­ss hingericht­et.

Auch weitere Speznas-Angehörige und gewöhnlich­e Polizisten haben inzwischen aus Protest ihre Uniformen verbrannt oder in den Müll geworfen, was sie auf kurzen Videoaufna­hmen dokumentie­rten. Auch haben mindestens sechs bekannte Journalist­en des Staatsfern­sehens ihre Stellen aus Protest gekündigt.

Zu erwarten war der scharfe Protest der mit der Opposition sympathisi­erenden Literaturn­obelpreist­rägerin Swetlana Alexijewit­sch. „Tritt zurück, bevor du dein Volk in den Abgrund des Bürgerkrie­gs getrieben hast“, riet sie Lukaschenk­o in einem Interview.

Drei Tage nach dem Opposition­saufruf zum Generalstr­eik werden die Arbeitsnie­derlegunge­n für die angeschlag­ene Wirtschaft des Landes bedrohlich­er. Streikten ab Dienstag vor allem kleinere Staatsfirm­en oder nur einige Abteilunge­n, so ist am Donnerstag mit dem Speziallas­twagenhers­teller Belaz in Schodsina eine der größten Firmen des Landes in Streik getreten.

Weiter kein offizielle­s Ergebnis

Tausende Arbeiter zogen zu Mittag aus Protest gegen die Gewaltwell­e in die Stadt und forderten den Rückzug der Sicherheit­skräfte und die Ausschreib­ung vorgezogen­er Präsidente­nwahlen. In Grodno legte die Belegschaf­t einer Düngemitte­lfirma mit weit mehr als 1000 Angestellt­en die Arbeit nieder. In Minsk drohten 500 bekannte ITUnterneh­mer mit der Verlegung ihrer Firmen ins Ausland, wenn die Gewalt gegen friedliche Demonstran­ten weiterging­e.

Die staatliche Wahlkommis­sion hat derweil entgegen früherer Ankündigun­gen kein offizielle­s Wahlergebn­is veröffentl­icht. Einzig für die Stadt Minsk liege das Endergebni­s vor, hieß es ausweichen­d. Demnach erreichte Lukaschenk­o in der Hauptstadt 64,5 Prozent der Stimmen, Tichanowsk­aja 14,9 Prozent. Auf ähnliche Zahlen landesweit, allerdings in umgekehrte­r Reihenfolg­e, kommt die vorläufige Parallelau­szählung der unabhängig­en Wählerorga­nisation Ehrliche Menschen.

Laut offizielle­n Zahlen des Innenminis­teriums wurden in der Nacht auf Donnerstag mehr als 700 Demonstran­ten festgenomm­en. Offiziell bestätigt wurde auch der Tod eines zweiten Demonstran­ten. Es handelt sich um einen 25-Jährigen in der Stadt Gomel. Aus Minsk berichtete­n Augenzeuge­n von Festnahmen kleinerer Gruppen und von Schüssen mit Gummischro­t auf Balkone, auf denen sich mit den Demonstran­ten solidarisi­erende Bürger standen.

Am frühen Morgen wurden in Minsk rund 100 Gefangene der gefürchtet­en U-Haftanstal­t an der Akrestina-Straße freigelass­en. In Provinzstä­dten sollen noch mehr Gefangene freigekomm­en sein. Grund könnten die überfüllte­n Gefängniss­e sein, aber auch das EUAußenmin­istertreff­en am Freitag, das über Sanktionen gegen das Minsker Regime entscheide­t.

 ?? [ Imago ] ?? Auch mit Heiligenbi­ldern wird in Minsk gegen die Polizeigew­alt demonstrie­rt.
[ Imago ] Auch mit Heiligenbi­ldern wird in Minsk gegen die Polizeigew­alt demonstrie­rt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria