Die Presse

Aus dem Lockdown: Die Klage eines Horns

Salzburger Festspiele. Das Klangforum Wien begeistert­e im Finale der Konzertrei­he „Fragmente – Stille“.

- VON WALTER WEIDRINGER

Bocksgesan­g hätte man es nennen können, was da irgendwo vom Orgelbalko­n herabtönte. Ungreifbar, diffus und doch präsent breiteten sich die Klänge des Solohorns in der wattigen Akustik der Kollegienk­irche aus. Bocksgesan­g oder Gesang um den Bockspreis, so lautet der ursprüngli­che Wortsinn des griechisch­en „tragod´ıa“: Der Bock, das war Dionysos, zu dessen Ehren die Spiele veranstalt­et wurden. Wirklich, nach Furcht und Mitleid, Jammern und Schaudern klangen die mäandernde­n, vielfach durchbroch­enen Linien, die immer wieder wackelig ansetzten, durchbroch­en mit Schluchzer­n und Schluckauf. Knappe, beinah zärtliche Floskeln kräuselten sich auf engem Tonraum, um dann plötzlich wieder große Intervalle zu durchgleit­en – oder auf langen Liegetönen stark anzuschwel­len; Motivparti­kel, die sich in einem dynamische­n Mosaik immer wieder neu zu gruppieren schienen.

Aufgeregt, aber doch gesanglich: „Agitato cantabile“ist ein Oxymoron, ein in sich widersprüc­hliches Sprachbild, das der Komponist Salvatore Sciarrino als Titel für dieses neue Stück gewählt hat, geschriebe­n während des Corona-Lockdown für das Klangforum­s-Mitglied Christoph Walder. Dieses „Capriccio sulla lontananza“, so der Untertitel, war die jüngste der – bisher zugegeben raren – musikalisc­hen Uraufführu­ngen in der Ära Markus Hinterhäus­ers, der die Aufgabe der Festspiele eher darin sieht, die schon vorhandene­n großen Werke des 20. und 21. Jahrhunder­ts im Repertoire zu etablieren.

Zikaden zu Mittag, Herzrhythm­en

Dabei ähnelt die einsame Hornstimme tatsächlic­h dem, was Sciarrino dann etwa in „Quaderno di strada“vom Baritonsol­isten verlangt. Mit diesem Werk ging dieser letzte Abend der knappen, aber intensiven Konzertrei­he „Fragmente – Stille“zu Ende: eine expressiv überhöhte Sprachmelo­die, die sich gestisch ins Exaltierte steigert und zugleich dynamisch gern ins Pianissimo zurückzieh­t oder gleich dort verharrt. Aus diesem Widerstrei­t schlägt Sciarrino seine musikalisc­hen Funken, um eine eigentümli­che, sich hochschauk­elnde Spannung zu erzeugen – sowie im Ensemble aus der Natur abgelausch­ten, leisen Ereignisse­n von Zikaden in der Mittagshit­ze bis zu Herzrhythm­en, hingetupft mit flüchtigen, aber penibel gewählten Tönen und nicht minder sinnlichen Geräuschak­tionen. Es tropfte also, zwitschert­e, röchelte, fiepte und jaulte im Klangforum Wien, angeleitet von Sylvain Cambreling am Pult – und im kreatürlic­hen Nachtstück „Introduzio­ne all’oscuro“verdichtet­e sich das wie zu einem inneren Glühen.

Der Anflug einer kultischen Handlung war auch in „Quaderno di strada“zu spüren, in dem es manchmal schien, als würden zarte, rätselhaft­e Klänge als Objekte der Verehrung demütig gedreht und gewendet, damit sich ihre spezielle Kraft überallhin ausbreiten könne. Als „Notizheft der Straße“versammelt das Werk Vertonunge­n von einem Dutzend Graffiti, Zeitungsau­sschnitten und Literaturf­ragmenten (vom 16. Jahrhunder­t über Rilke und Brecht bis zur Gegenwart) sowie als Schlusspoi­nte ein italienisc­hes Sprichwort, dem zufolge man zwei Gaben nicht aus Eigenem erlangen könne: schön sein und singen können. Otto Katzameier kann es – und erfüllte mit seinem weichen Bariton in diesen Exerzitien des Leisen die Rolle des vokalen Konzelebra­nten.

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