Kelsen und unsere „schöne Verfassung“
Hans Kelsen hat alle Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts erlebt.
Sein Lebensbogen führte ihn von Prag ins kaiserliche Wien, nach Köln und Genf bis ins kalifornische Berkeley. Habsburgs Ende, die Zwischenkriegszeit, noch ein Weltkrieg, die Gründung der Vereinten Nationen und die Illusion, dass nun der Weltfrieden einziehen werde: All das ist dem Rechtslehrer Hans Kelsen (1881–1973) widerfahren, der als genialer Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung gerühmt wird, als umsichtiger Vater eines juristischen Gebäudes, das nicht nur vom Bundespräsidenten als höchst praktikabel geschätzt wird.
Eine neue Biografie liegt nun vor, wobei der Autor, Thomas Olechowski, gleich eingangs warnt, dass hier nicht die Reine Rechtslehre im Mittelpunkt stehen werde, sondern Kelsen selbst. Auf mehr als tausend Seiten ist dies Bemühen nachzulesen. Und man freut sich mit dem Wiener Universitätslehrer, dass er im Zuge seines Forschungsprojekts auch seine heutige Ehefrau kennengelernt hat.
Der Autor lenkt dankenswerterweise den Fokus auf das familiäre Umfeld des später so berühmten Mannes, die Herkunft seiner Eltern, aus Brody in Galizien, das uns durch Joseph Roths Erzählungen bestens vertraut ist. Die Familie war schon 1891 von Prag nach Wien übersiedelt, als Produzent von bronzenen Beleuchtungskörpern leistete sich Kelsens Vater eine Wohnung auf der Wieden und legte großen Wert darauf, dass der Sohn in Wien die besten Schulen besuchte. Mit der mosaischen Religion der Väter hatte die Familie außer der Mitgliedschaft in der Kultusgemeinde nichts mehr zu tun. 1905 ließ sich Kelsen denn auch katholisch taufen. Eine Anstellung im Staatsdienst war anders nicht möglich.
Begeistert von seinen Lehrern war Kelsen allerdings nicht. Er überlegte nach der Matura zunächst, „Philosophie, Mathematik und Physik“zu studieren. Immanuel Kant wurde sein Idol. Dem Akademischen Gymnasium stellte Kelsen kein gutes Zeugnis aus. Und die Schule ihrerseits hielt auch nicht viel von ihm: Erst 2003 brachte man eine Gedenktafel für den einstigen Schüler an . . .
Bahnbrechend war letztlich Kelsens Reine Rechtslehre, die forderte, das Recht präzise zu beschreiben, aber von politischen und naturrechtlichen Elementen freizuhalten. Ziel seiner Lehre war es demnach, ausschließlich die positive Rechtsordnung zu beschreiben, aber nicht darüber zu urteilen, wie das Recht sein oder gemacht werden sollte. 1919 wurde er von Karl Renner beauftragt, an der neuen deutschösterreichischen Verfassung mitzuarbeiten. Sie ist – mit einigen Modifikationen – bis heute in Kraft.
Eine Würdigung des Gedankengebäudes Kelsens möge Berufeneren vorbehalten bleiben. Sie werden in dem umfangreichen Oeuvre Befriedigendes, wohl auch Überraschendes entdecken. Etwa die dichterische Ader, von der auch Kelsens letztes Gedicht zeugt, das er in Berkeley als Grabinschrift erdachte: „Nach Wahrheit gerungen / In Irrtum gefallen. / Das Lied ist verklungen / und der es gesungen / vergessen von allen.“
Davon kann keine Rede sein. Kelsens Ruhm reicht weit herüber in die alte Heimat, der er auch bis 1930 als Verfassungsrichter diente. Ein letztes Mal besuchte er Österreich und seine Alma Mater zu deren 600-Jahr-Feier 1964. Die war überschattet von der Borodajkewycz-Affäre, die im ursächlichen Zusammenhang mit Kelsen stand. Am 19. April 1973 starb der große Rechtsgelehrte fern der Heimat, seine Asche wurde im Pazifik verstreut.