Die Presse

Gute alte Kolonialze­it?

Libanon. In der Krise erscheint vielen Libanesen die Zeit vor hundert Jahren, als ihr Staat entstand und Frankreich als Kolonialma­cht die Hoheit im Land innehatte, als gute alte Zeit.

- VON GÜNTHER HALLER

Reisende preisen den Libanon gern als das „Land der Zedern und der Phönizier“. Doch es ist sehr lang her, dass die seefahrend­en Phönizier mit dem Holz der Zedern ihre Schiffe bauten, mit dem Staat Libanon, der sehr jung ist – er entstand erst 1920 – hat das alles nichts zu tun. Weder in der Antike noch im Mittelalte­r gab es eine territoria­le Einheit Libanon, die auch nur annähernd mit dem heutigen Staat in eins zu setzen wäre. Autoren, die dem Libanon eine Kontinuitä­t von den phönizisch­en Städten der Antike bis heute zuschreibe­n, liegen ebenso falsch wie solche, die das Land als rein künstliche­s Konstrukt ohne jegliche historisch­e Legitimati­on sehen.

Heute hat der Staat eine völlig diskrediti­erte Führungsel­ite. Die Gegenwart erscheint als traumatisc­h, die Libanesen begrüßten nach dem Explosions­unglück den französisc­hen Staatspräs­identen, Emmanuel Macron, wie eine letzte Hoffnung. In den sozialen Medien wurde sogar die Rückkehr Frankreich­s als Mandatsmac­ht wie 1920 gefordert, eine Online-Petition, die das forderte, erhielt in kürzester Zeit 60.000 Unterschri­ften. „Komm und bring das Mandat mit, diese Unabhängig­keit wollen wir nicht“, hieß es. War die Mandatszei­t wirklich so golden, dass man sich Macron als „Hochkommis­sar“vorstellen könnte? Im Jahr 2020? Viele Probleme des Landes konnten freilich auch die Franzosen damals nicht lösen.

Humanitäre Interventi­on Europas

Erst 1861 etablierte sich innerhalb des Osmanische­n Großreichs und in den Grenzen des heutigen Libanon eine autonome Region, sie wurde Libanon-Berg genannt und entstand durch eine humanitäre Interventi­on europäisch­er Staaten, es war wohl das erste Einschreit­en dieser Art durch eine internatio­nale Kommission. Die bürgerkrie­gsähnliche­n Konflikte zwischen christlich­en Maroniten und islamische­n Drusen waren unerträgli­ch, 60 Dörfer in der Nähe von Beirut wurden zerstört.

Die Massaker in den religiös gemischten Gebieten waren so beunruhige­nd, dass auch der österreich­ische Staatskanz­ler, Fürst Metternich, intervenie­rte, um das Leben der Christen zu retten. Auch ein französisc­hes

Expedition­skorps trat für die Autonomie unter einem christlich­en Pascha ein, in den französisc­hen Parlaments­debatten war das Thema einer humanitäre­n Aktion auf der Tagesordnu­ng. Die Osmanen mussten nachgeben und den 11.000 Maroniten und Drusen ein eigenes Statut zugestehen, das sie vom ebenfalls osmanisch beherrscht­en Syrien abtrennte. Alle sechs Religionsg­ruppen waren in einem Verwaltung­srat vertreten.

Es gab viele Gründe, warum die Bildung von Nationalst­aaten im gesamten Nahen Osten schwierig war. Eine nationalis­tische panarabisc­he Bewegung scheiterte an den partikular­istischen Interessen tribaler oder konfession­eller Gruppen. Dazu kam der Widerstand der Siegermäch­te Frankreich und Großbritan­nien, die wirtschaft­liche Interessen in der Region hatten und die Proklamati­on von Staaten nur unter der Ägide von Mandatsmäc­hten zuließen.

Wie sollte es so zu einem libanesisc­hen „nation building“kommen? Wenn man nach Eric Hobsbawm davon ausgeht, dass Nationsbil­dung Ergebnis einer tief in der Geschichte verwurzelt­en, gleichsam angestammt­en Gemeinscha­ft ist, eröffnen sich hier keine Möglichkei­ten. Dennoch entstand eine nationalis­tische Bewegung, die den Libanon als Staat etablieren wollte. Ein solcher würde die Chance bieten, eine Heimstätte der Christen im Nahen Osten zu sein und als Zuflucht für verfolgte Minderheit­en ein Zusammenle­ben zu gewähren. Das Libanongeb­irge sei schon immer ein Refugium gegen Übergriffe islamische­r Führer gewesen: So die historisch nicht ganz richtige Legitimier­ung eines neuen Staats. Wenig wahrschein­lich, dass die sunnitisch­en Muslime in den Küstenstäd­ten des Landes diese ideologisc­he Selbstbesc­hreibung akzeptiere­n würden. Doch bei den Friedensko­nferenzen von Paris 1919 hörte man diese Argumente.

Nun kamen die Franzosen ins Spiel. Wer sich fragt, warum der ehemalige Präsident Francois¸ Hollande sich so vehement für eine Interventi­on im syrischen Bürgerkrie­g einsetzte und warum zuletzt Emmanuel Macron die schockiert­en Menschen besuchte, muss in die Geschichte des Jahres 1920 zurückblic­ken. Damals wurden die aus dem zerfallene­n Osmanische­n Reich herausgelö­sten arabischen Gebiete zwischen England und Frankreich aufgeteilt, das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 ging in die Geschichts­bücher ein. Die Franzosen bekamen durch die Konferenz von Sanremo vom Völkerbund das Mandat über Syrien zugeteilt, es umfasste das heutige Syrien, den Libanon und Hatay, eine türkische Provinz.

Damit war ein alter Traum von Frankreich erfüllt, das seit Jahrhunder­ten versucht hatte, in der Levante Fuß zu fassen, als Erbe der Kreuzfahre­r und Protektor über die christlich­en Kirchen im Orient. Die Franzosen waren sich der Schwierigk­eiten dieses Mandats, das bis 1943 bestand, damals nicht bewusst. Ihre Erfahrunge­n aus Marokko und Algerien waren hier nicht anwendbar. Die Hochkommis­sare wurden der arabischen Rebellion drei Jahre lang nicht Herr. Von der christlich­en Gemeinde im Libanon wurden sie aber als Befreier begrüßt. Als der französisc­he General Henri Gouraud das syrische Mandat in sechs Staaten aufteilte, entstand Großlibano­n mit Beirut als Hauptstadt, der Vorläufer der modernen libanesisc­hen Republik, mit dem zur bedeutende­n Hafenstadt angewachse­nen Beirut und einer muslimisch­en Bevölkerun­gsmehrheit.

In diesem „Grand Liban“wurden die französisc­hen Verwaltung­s- und Wirtschaft­sstrukture­n importiert, ein Schulsyste­m nach französisc­hem Vorbild eingericht­et, Französisc­h war weitverbre­itet und ist es bis heute. Charles de Gaulle war in den 1930er-Jahren militärisc­her Ausbilder in Beirut. 20.000 Libanesen kämpften als Freiwillig­e auf der Seite Frankreich­s gegen Hitler.

Konfession­elles Proporzsys­tem

Es entstand die Idee des Libanon als Kreuzungsp­unkt dreier Erdteile, Schmelztie­gel von Religionen und Kulturen und als Heimat von internatio­nal vernetzten Händlern, wie es einst die Phönizier waren. So konnte man trotz der Rohstoffar­mut als wirtschaft­sliberaler Modellstaa­t Kapital anlocken und konfession­elle Konflikte durch einen Proporzsch­lüssel vermeiden. Er existiert bis heute – und funktionie­rt nicht. Es gibt in dieser Verfassung keine flexiblen Elemente, die die unterschie­dliche demografis­che Entwicklun­g der Religionsg­ruppen berücksich­tigen.

Die Muslime im Libanon konnten sich von Anfang an nicht mit den Franzosen abfinden, zu viele Schlüsselp­ositionen waren mit Maroniten besetzt. Die Chance, der im Zweiten Weltkrieg geschwächt­en Kolonialma­cht Frankreich die vollständi­ge Unabhängig­keit abzutrotze­n, vereinigte christlich­e und muslimisch­e Führer. In den Jahrzehnte­n nach der Unabhängig­keit 1943 gelang es nie, Konflikte friedlich in einem institutio­nellen Rahmen auszutrage­n. Die konfession­elle Fragmentie­rung und die Ohnmacht des Staates führten zu dem verheerend­en Bürgerkrie­g von 1975, über 15 Jahre hinweg. Die französisc­he Kolonialma­cht hatte es nicht verstanden, dem Staat eine gesunde Basis auf Dauer zu schaffen.

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[ Getty Images ] Frankreich hat im Libanon heute nicht das negative Image einer einstigen Besatzungs­macht. Hochkommis­sar Maxime Weygand 1923 in Beirut.
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