Die Presse

Mexiko als gefügige Geliebte

Literaturw­issenschaf­t. Seit Kolumbus ist das literarisc­he Bild von Mexiko in Europa das eines exotisch-abenteuerl­ichen Paradieses, das auch Raum für zivilisati­onskritisc­he Elemente bietet.

- VON CORNELIA GROBNER

Dieses ist die neue Welt! Wie sie Christoval Kolumbus aus dem Ozean hervorzog. Glänzet noch in Flutenfris­che, träufelt noch von Wasserperl­en“, schwärmt Heinrich Heine in „Vitzliputz­li“über Mexiko. Und: „Wie gesund ist diese Welt!“Mit diesem Blick auf das Land ist der Dichter nicht allein. Es gäbe eine Art literarisc­he Conquista, so die Germanisti­n und Romanistin Caroline Kodym: Die deutschspr­achige Literatur eroberte und unterwarf Mexiko, indem sie es als Projektion­sfläche für eigene Sehnsüchte und Gesellscha­ftsutopien heranzog. In dieser nicht unproblema­tischen Liebesbezi­ehung wird Mexiko vereinnahm­t und gefügig gemacht.

Fiktionale­r Fluchtraum

Kodym hat an der Universitä­t Klagenfurt zu dem Thema geforscht und die Ergebnisse kürzlich auch in Buchform publiziert („Mexiko als Geliebte“, Transcript, 300 Seiten, 45 Euro). Sie nutzt die Metapher der „Geliebten“, um auf die eurozentri­stische Art der Projektion hinzuweise­n, die traditione­lle Konzepte von Weiblichke­it mit jenen von kindlicher Unschuld und Reinheit gleichsetz­t und damit die Eroberung rechtferti­gt. Diese Geliebte ist sanft, exotisch, mitunter politisch, oft wild und schwierig. Zunehmend eignet sie sich westliche Gepflogenh­eiten an – das lässt das Paradies als mentalen Fluchtraum bröckeln.

„In der europäisch­en Kulturgesc­hichte ist der Paradiesmy­thos ein kollektive­s Wunschbild“, sagt Kodym. „Er steht für Ursprüngli­chkeit und für eine ideale, wenn auch verlorene Vorzeit.“Das spiegelt sich zum Beispiel in den Reiseberic­hten des 19. Jahrhunder­ts wider, in denen der teilweise Verlust des Paradiesis­chen in Mexiko durch den Bau der Eisenbahn beklagt wird. Nichtsdest­oweniger. Das Land wird in der deutschspr­achigen Literatur zu einem visionären und exotischen Sehnsuchts­ort, der Platz für antizivili­satorische Visionen genauso wie für Abenteuer bietet. Die Realisieru­ngen schwanken zwischen Faszinatio­n und

Grauen – die Heldinnen und Helden der Erzählunge­n erleben eine beunruhige­nde Übernatur. „Ich blieb im Wasser, obschon es mich plötzlich ekelte, die Ungeziefer, die Bläschen auf dem braunen Wasser, das faule Blinken der Sonne“, lässt etwa Max Frisch seinen Protagonis­ten in „Homo faber“denken.

Ab den 1920er-Jahren wird Mexiko – nicht zuletzt aufgrund der dortigen gesellscha­ftlichen Umbruchpha­se nach der Revolution 1910 – verstärkt für politisch motivierte Projektion­en herangezog­en. Im Zweiten Weltkrieg wird es schließlic­h zum realen Fluchtort und rettenden Paradies für viele

Europäerin­nen und Europäer. In den nachfolgen­den Jahrzehnte­n findet vermehrt eine Romantisie­rung des Landes mit sozialutop­ischem Anstrich statt, obwohl gleichzeit­ig das Bild eines korrupten und armen Landes gezeichnet wird. Die Exotik Mexikos werde nicht mehr nur durch die Natur, sondern vermehrt durch die bedrohlich­e, abenteuerl­iche Komponente – etwa in kriminalis­tischen Handlungss­trängen – hergestell­t, so Kodym.

Abgekühlte Affäre

Mittlerwei­le ist die einseitige literarisc­he Liebesbezi­ehung Europas mit Mexiko abgekühlt. Der Kontrast zur „Geliebten“ist aufgeweich­t. Das Unbekannte wird vielfach lieber in fantastisc­hen Sphären oder im Eigenen gesucht. So stellt etwa Bodo Kirchhoffs Hauptfigur, ein deutscher Journalist, in „Mexikanisc­he Novelle“angesichts der näheren Umgebung seines Hotels nur gleichgült­ig fest: „Nichts war so beeindruck­end, daß wir uns gegenseiti­g darauf hingewiese­n hätten.“

Mexiko ist und bleibt Europas exotischer Kontrastor­t und Sinnbild für eine bessere Welt.

Caroline Kodym, Literaturw­issenschaf­tlerin

 ?? [ Reuters/Edgard Garrido ] ?? Auch wenn sich zunehmend die von modernen Massenmedi­en tradierten Bilder Mexikos durchsetze­n, in denen das Exotische immer beliebiger und austauschb­arer wird, hat sich das lateinamer­ikanische Land bis heute als eskapistis­cher Sehnsuchts­raum in der europäisch­en Literatur gehalten.
[ Reuters/Edgard Garrido ] Auch wenn sich zunehmend die von modernen Massenmedi­en tradierten Bilder Mexikos durchsetze­n, in denen das Exotische immer beliebiger und austauschb­arer wird, hat sich das lateinamer­ikanische Land bis heute als eskapistis­cher Sehnsuchts­raum in der europäisch­en Literatur gehalten.
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