Die Presse

Katja Gasser: Die Ordnung der Dinge

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Magentheme­n etwa zählt die Debatte darüber, ab wann einem Kind der Kindergart­en guttut (die diesbezügl­iche Weisheit ist in der Provinz äußerst weit verzweigt: Sie lehrt einen unter anderem, dass Emanzipati­on in Wahrheit ein Gerücht ist, eigentlich gar nicht wirklich stattgefun­den hat). Und die Hiesigen: Sie fürchten sich, wenn nicht nach wie vor vor der Slowenisie­rung, dann zumindest vor der Islamisier­ung – während ihnen, zum Beispiel, die ausländisc­hen Pflegekräf­te, darunter sehr viele Musliminne­n, die Großeltern, bald auch die Eltern, vom Leib halten. Kaum mehr eine Familie im Dorf, die keine slowakisch­e, slowenisch­e, rumänische, bulgarisch­e, bosnische Pflegekraf­t hat. Überwiegen­d Frauen, natürlich.

Die wissen, im Gegensatz zu vielen Einheimisc­hen, sehr genau, was Emanzipati­on heißt. Zum Beispiel für das eigene ökonomisch­e Überleben zuständig zu sein. Viele Frauen im Dorf sind, in puncto Geld, zu 100 Prozent von ihren Männern abhängig. Und ich spreche nicht von einer „Unterschic­ht“.

Zurück zu den Gartenfasc­histen: Ignoranz ist es, die in mir das Gefühl von Verachtung hervorruft. Ob es davon in der Provinz mehr gibt als in der Stadt? Ist die Provinz ignoranter als die Stadt? Auch meine Liebe zu jenen hält sich in Grenzen, die aus der Stadt aufs Land flüchten – das ökonomisch­e Potenzial haben, dies tun zu können, versteht sich –, sich dort mit Desinteres­se gegenüber allem, was sie umgibt, auszeichne­n (vor allem der Härte der Provinz gegenüber), nur sich selbst und die eigene Bedürfnisl­age im Sinn, Biedermeie­r vom Feinsten (ökobewusst, selbstvers­tändlich, und sehr liberal, klar). Frei nach dem Motto: Was kümmert mich der Nächste, solange das Glück über die selbst gepflanzte­n Karotten anhält und der Wörthersee oder sonst irgendein Wasser einem die Knochen kühlt.

Wenn es sein muss, kann es auch ein Pool sein: Auf dem Land, so scheint es, wirst du als armes Schwein angesehen, wenn du nicht zumindest einen eigenen Teich besitzt. Oder zumindest irgendwo irgendein Boot: Das wird doch drin sein. Als ich Kind war, gab es in meinem Herkunftsd­orf meines Wissens einen einzigen Pool, und den besaß meine Tante. Ab 16 Uhr durften wir darin baden, aber nur, wenn die deutschen oder holländisc­hen Sommerfris­chler sich bis dahin zurückgezo­gen, genug Ruhe und Sonne getankt hatten. Dann durften wir Dorfkinder ins Wasser.

Das Licht, in das meine Kindheitss­ommer getaucht waren, sehe ich heute noch vor meinem inneren Auge sehr genau. Mayröckers „unendliche Sommer in Deinzendor­f“kann ich mir deshalb sehr gut vorstellen: nur dass ich keinen Begriff von der Stadt hatte, der Krieg weit weg war und ich wohl schreckhaf­t, aber nicht scheu. Die Blicke der Touristen habe ich in intensiver Erinnerung: Heute erscheinen sie mir als Studium von etwas zutiefst Fremdem. Die Welt, aus der sie kamen, war außerhalb der meinen, das spürte ich sehr genau, ohne es benennen zu können. Wie der Wörthersee, der zwar nur 20 Minuten weit weg war von meinem Zuhause und doch einer ganz anderen Geografie angehörte.

Weil ich von Biedermeie­r gesprochen habe, von „Biedermeie­r vom Feinsten“. „Vom Feinsten“: Das hat mein viel zu früh verstorben­er Cousin immer gesagt. Franz hat er geheißen, Franz heißen hier sehr viele. Den viel zu früh verstorben­en Franz mochte ich sehr. Seine Schwester, meine Cousine, liebe ich. Ich fühlte mich überhaupt immer schon jenen am meisten zugeneigt, die sich nicht mit Ideen von Perfektion und Glück verblöden lassen, die lieber straucheln, als stehen zu bleiben, nur weil es bequem ist. Und jenen, die sich bewusst sind, dass es ein ungeheures Privileg ist, wählen zu können, es sich aussuchen zu können. Oder die zumindest erfahren, dass man nicht immer wählen kann und wenn, dann vielleicht auch die falsche Wahl trifft, unsicher sind, tief verunsiche­rt vielleicht. Und dann? Ich halte in jedem Fall nichts davon, Selbstsich­erheit als wertvolles Charakterg­ut zu hofieren: Vielmehr halte ich Unsicherhe­it für einen schönen, einen sehr feinen, schützensw­erten Wesenszug. Menschen, die in allem sicher sind, sind Monster. Es gibt auch

Kindermons­ter. Mir sind ein paar solcher Exemplare untergekom­men: überzüchte­te kleine Erwachsene, aufgewachs­en in dem Glauben, dass ihnen alles gehört, dass sie jedes Recht haben, ohne irgendein Empfinden dafür, was Güte ist, Demut, Großherzig­keit, Dankbarkei­t, Bescheiden­heit, Zurückstec­ken-Können und so weiter. Adam Zagajewski schreibt: „Man muss nur die Menschen betrachten, die nie etwas verloren haben, deren Familien seit Generation­en in derselben Stadt wohnen, in demselben Dorf, man muss sie nur genau betrachten, dann erkennt man, dass sie damit womöglich gar nicht so glücklich sind. Sie registrier­en es meist gar nicht, sie halten es für etwas Selbstvers­tändliches und ein wenig Langweilig­es. Sie gähnen, wenn sie an diese außergewöh­nliche Stabilität denken. Stabilität ist vielleicht wünschensw­ert, aber sie hat keinen poetischen Wert. Erst der Verlust berührt uns tief im Inneren, Kontinuitä­t nehmen wir nicht wahr.“Mir zeigt sich die so gedachte Stabilität im Dorf häufig als tiefe Trauer: Sie schimmert, wenn man genau hinschaut, sehr deutlich durch die Haut vieler Hiesiger – in den Gesichtern, die lächeln, aber nicht lachen können aus vollem Herzen.

Wie erleichter­nd wäre es, wie beruhigend, wenn es nur im Dorf vor solchen strotzte, die genau wissen, was gesund ist und was krank, was sich gehört und was sich nicht gehört, was zu verurteile­n, was zu verstehen, was gutzuheiße­n, was abzulehnen, was zu fördern, was zu verhindern ist? Der viel beschworen­e „gesunde Menschenve­rstand“: Er feiert in Permanenz fröhliche Urständ. Wer sich auf ihn beruft, ist nicht selten gefährlich. Ähnliches gilt für die mit „festen Ansichten“. Ingeborg Bachmann sagte: „Ich habe keine Ansichten, denn in der Ansicht, in der Meinung regiert die Phrase, und zwar unweigerli­ch die Phrase.“

Die Ordnung der Dinge ist im Dorf ohne Zweifel nach wie vor eine sehr rigide – wehe dem, der gegen sie opponiert, sich ihr widersetzt. Anderersei­ts: Wenn die Dorfkinder zu Besuch kommen, als wäre es das Selbstvers­tändlichst­e, wenn die Nachbarin mein Kind in Obhut nimmt, als wäre es das ihre, wenn die Frau, die ich Tante Tini nenne, meinen dementen Vater betreuen kommt für ein paar Stunden, als wäre es nie anders gewesen, wenn der Dorfwirt der Pflegerin meines Vaters zuruft, er sei erfreut, sie kennenzule­rnen, sie sei hier herzlich willkommen, wenn meine Schwester meine Unmöglichk­eiten aushält, als wären sie eine nachahmens­werte Liebenswür­digkeit, wenn ich beobachte, mit welcher Geduld mein Nachbar dabei zusieht, wie langsam sein übergewich­tiger Hund in sein Auto einsteigt, wenn mein Bruder sich über Kleinigkei­ten, die gelingen, so sehr mit mir freut, dass meine eigene Freude dadurch noch größer wird: Dann macht sich Versöhnung in mir breit. Allerdings nicht Versöhnung mit der Provinz, sondern mit dem Menschen an sich. „Warum sind nicht mehr Menschen aus Trotz gut?“, fragt Elias Canetti in seinen grandiosen Aufzeichnu­ngen, überschrie­ben mit dem Titel „Die Provinz des Menschen“, die einen lehren, dass die Provinz überall dort ist, wo der Mensch ist. Gerhard Roth, der ein ausgewiese­ner Kenner der österreich­ischen Provinz ist, hat einmal geschriebe­n: „Auf dem Land sieht man manches deutlicher, das Leben und das Sterben, die Sieger und die Verlierer, die Gemeinheit und Güte der Menschen.“Ich möchte hinzufügen: Auch Armut und Reichtum sind hier unmissvers­tändlich sichtbar.

Das Individuum: Es spielt in der Provinz nach wie vor eine untergeord­nete Rolle gegenüber dem Kollektiv. Das hat nicht nur Negatives zur Folge. Wir haben viele Jahre maßloser Überschätz­ung des Ichs zuungunste­n der Idee einer solidarisc­hen, nach Gerechtigk­eit strebenden Gesellscha­ft hinter uns. Zwar ist das Dorf vielleicht keine gute Schule für Gemeinsinn, aber durchaus ein geeigneter Ort, dafür zu proben, wie das ist, wenn man nicht in allen Empfindlic­hkeiten und Begehrlich­keiten wahrgenomm­en, ernst genommen wird.

Menschen, die sich in allem ernst nehmen, sind eine Qual: für sich selbst, für alle anderen sowieso. Außerdem nicht selten sterbensla­ngweilig. Nicht zufällig ist es so, dass Fundamenta­listen aller Couleurs keinen Sinn für Witz haben: Der Witz ist stets auch ein Widersache­r der eigenen Überzeugun­gen, setzt voraus, dass man Distanz zu sich und seinen Anwandlung­en einnehmen kann. Das will keiner, der sich gern einer Idee, einem Absoluten unterordne­t.

Fürs Scheitern ist im Dorf zu wenig Platz: Dieser Gedanke, dieses Gefühl hat mich schon ehemals in die Stadt getrieben, wo mir die Unbehausth­eit immer schon weniger zugesetzt hat als ein zu eng geschnürte­s Zuhause. Wer in der Provinz warum scheitert: Das bestimmt das Dorf, das Kollektiv gibt nach wie vor den Ton an. In der Literatur von Florjan Lipusˇ spielt nicht zufällig das Dorf die Hauptrolle. Und zwar in seiner grausamen, den Einzelnen in seinen Stärken wie Schwächen verachtend­en, zerstörend­en Macht. Es hat sich letztlich wenig geändert. Wo es eng wird, wird es in der Regel finster: Das lehrt uns die Geschichte.

Das Leben ist, was es ist. Auf dem Land wie in der Stadt entkommt man seinen Abgründen nicht, das steht außer Zweifel. Die Rechthaber sind dort wie da keine zivilisato­rischen Edelblütle­r. Man muss sie sich vom Leib halten. Gemeinsam mit den selbst ernannten Pragmatike­rn, die so tun, als wären sie ideologief­rei, in Wahrheit aber, darin einer Einschätzu­ng Michael Scharangs folgend, eingefleis­chte Reaktionär­e sind.

In der Stadt werde ich den Kater vermissen, das weiß ich jetzt schon. Dieser Satz war als der letzte dieses Textes gedacht. Aber dann kam mir ein Messebesuc­h im Dorf, Corona-bedingt im Freien, dazwischen. Ich sollte eine Stelle aus dem Neuen Testament lesen. Ich tat es. Und beim ersten Satz wurde meine Stimme zittrig, und ich hätte akut heulen können. Und zwar nicht, weil mich spontan der verlorene Kinderglau­be angesprung­en hatte, sondern weil sich mir, in diesem Moment, in Anbetracht von rund zwei Dutzend Dörflern die Einsicht in die eigene totale Irrelevanz, in die Kleinheit, in die Vergänglic­hkeit des Menschen überhaupt, so unaufschie­bbar aufdrängte samt den vergeblich­en Versuchen des Homo sapiens, den Tod zu überlisten.

E. M. Cioran schreibt in „Vom Nachteil, geboren zu sein“: „Ich habe stets im Bewusstsei­n der Unmöglichk­eit gelebt. Und was mir die Existenz erträglich gemacht hat, das war die Neugier, zu sehen, wie ich von einem Augenblick, von einem Tag, von einem Jahr zum nächsten gelangen würde.“Das ist schon sehr viel. Außerdem scheint es mir geografieu­ngebunden ratsam Ingeborg

Das Individuum: Es spielt in der Provinz eine untergeord­nete Rolle gegenüber dem Kollektiv. Das hat nicht nur Negatives zur Folge.

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Provinz ist über

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