KATJA GASSER
Die Angst vor dem Virus ließ die Chorszene erstarren. Singen wurde als gefährlich stigmatisiert. Studien freilich zeigen, dass Singen nicht gefährlicher als Reden oder Sporteln ist. Es kommt vor allem darauf an, wie man es macht. Bericht aus der Praxis.
Geboren 1975 in Klagenfurt. Dr. phil. Leitet das Literaturressort des ORF. LeopoldUngar-Preis. Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik 2019.
Die Angst vor dem Virus ließ die Chorszene erstarren. Singen wurde als gefährlich stigmatisiert. Ein Bericht aus der Praxis. Von Martin Kugler.
Der vergangene Samstag war ein denkwürdiger Tag: Im Haydnsaal des Schlosses Esterhazy´ in Eisenstadt (und tags darauf in der Stiftskirche Herzogenburg) wurde erstmals nach fünf Monaten des CoronaLockdowns ein großes Chor-Orchester-Werk aufgeführt. Joseph Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“, dargebracht vom Chor Ad Libitum und dem Originalklangorchester Barucco, durchbrach eine Stille, die rund 150 Tage gedauert hatte – eine Zeit, in der groß besetzte Musik nicht erklingen konnte, eine Stille, die beinah daran zweifeln ließ, dass sich Österreich wirklich als Kulturnation begreift. „Kunst braucht den Menschen, sonst stirbt sie“, meint dazu der Leiter der beiden Aufführungen, Heinz Ferlesch. „Singen wurde und wird in den Medien seit Monaten zur Gefahr schlechthin gemacht“, ärgert er sich. „Dabei geht es nicht um die Frage: Was macht eine Gruppe von Menschen? Es geht vielmehr um die Frage: Wie nimmt eine Gruppe ihre Verantwortung gegenüber den Mitmenschen wahr?“
Dass man mit einem ausgeklügelten Hygienekonzept und mit klaren Verhaltensregeln verantwortungsvoll mit dem Risiko durch Covid-19-Viren umgehen kann, haben Ferlesch und seine rund 70 Mitmusikerinnen und Mitmusiker nun eindrucksvoll bewiesen. „Wir spielen die Gefahr von Corona nicht herunter. Ganz im Gegenteil: Wir nehmen das sehr ernst und handeln entsprechend.“So wurden bei den Konzerten alle behördlichen Vorgaben eingehalten, teilweise sogar übererfüllt: Beim Betreten und Verlassen der Räumlichkeiten galt Maskenpflicht, der Mund-Nasen-Schutz durfte erst am zugewiesenen Sitzplatz abgenommen werden. Alle Plätze hatten den erforderlichen Mindestabstand zum Nachbarn, beim Eingang war eine Desinfektion der Hände obligatorisch. Die Pause war überlang, ein Ordnerdienst sorgte für ein ruhiges Verlassen der Räumlichkeiten. Auf Formularen, die auf jedem Sitzplatz (samt neuem Kugelschreiber) bereitlagen, wurden die Konzertgäste gebeten, ihre Kontaktdaten zu hinterlassen – zwecks „Tracing“im Fall des Falles. Ein ähnliches Bild auf der Bühne und im Altarraum: Zwischen allen Musizierenden herrschte der gesetzliche Mindestabstand. Der Chor war schachbrettartig aufgestellt, der Auftritt erfolgte mit Mund-Nasen-Schutz, der erst nach erfolgter Aufstellung abgelegt wurde.
Es geht also: Österreich singt und klingt wieder! Und das war erst der Anfang: Bei den Salzburger Festspielen wird dieses Wochenende das wohl berühmteste aller ChorOrchester-Werke auf die Bühne gebracht: In seiner ganzen Pracht erschallen wird Ludwig van Beethovens Neunte Symphonie.
Vor einigen Wochen noch schien das undenkbar. Die Wurzel des Problems reicht in die Anfangszeit der Coronakrise zurück: Bei mehreren Chorveranstaltungen in ganz Europa und darüber hinaus – zum Beispiel bei einer Probe des Berliner Domchors und des Kirchenchors in Mount Vernon (Washington, USA) oder bei einem Chorwochenende in St. Georgen an der Gusen – steckten sich zahlreiche Menschen mit dem Covid-19-Erreger an. Seither gilt Singen bei vielen als tödliche Gefahr.
Gesund für Körper und Seele
Die Vorfälle sind zwar nicht zu leugnen, aber unterm Strich gibt es nur relativ wenige belegte Fälle, bei denen es tatsächlich durch Singen zu massenhafter Ansteckung kam. Man darf eher vermuten, dass dies beim Zusammensitzen und Plaudern danach geschah – denn Chorsängerinnen und -sänger sind gesellige Wesen.
Die öffentliche Meinung machte jedenfalls binnen weniger Wochen eine totale Kehrtwende: Vor Corona war gemeinschaftliches Singen äußerst positiv konnotiert, ähnlich wie Sportvereine oder Blaskapellen zählten Chöre zu den Kernstücken des Vereinswesens, der Kulturpflege, ja der Gesellschaft schlechthin. Überdies wurde Singen jahrelang – zu Recht – als gesund für Körper und Seele gepriesen: Studien zeigten, dass Singen gut für den Kreislauf ist, das vegetative Nervensystem und die Abwehrkräfte stärkt, überdies lebensverlängernd wirkt und, am wichtigsten, glücklich macht.
Kein Wunder, dass Chöre in den vergangenen Jahren immer beliebter wurden und sich großen Zulaufs erfreuten respektive viele neue gegründet wurden. Beim Chorverband Österreich sind mehr als 3500 Chöre mit rund 100.000 Sängerinnen und Sängern registriert – das sind wesentlich mehr, als es etwa Fußballvereine und aktive Kicker gibt. Auch bei der Zuhörerschaft, die den jährlich rund 13.000 Konzerten und 20.000 gestalteten Messen beiwohnt, ist das Chorwesen nicht vernachlässigbar: Mit der Musik werden laut Chorverband in Österreich jährlich rund 3,1 Millionen Menschen erreicht.
Die Corona-bedingten Einschränkungen trafen diese florierende Szene mitten ins Herz. Öffentlich verteufelt, medial verunglimpft und hochgradig verunsichert stellten alle Chöre des Landes ihre Probenarbeit ein. Wofür sollte man auch proben, wenn ohnehin keine Aufführungen mehr stattfinden können! Während aber der Sport schon vor Monaten Sonderregelungen beim Umgang mit dem Corona-Risiko bekam, wird die Musik weiterhin mit überzogenen und teils weltfremden Vorschriften kurz gehalten. Welcher Chor kann sich zum Beispiel ein Probenlokal leisten, in dem jedem Akteur, jeder Akteurin zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen?
Faktisch ist diese Schlechterbehandlung von Musik nicht zu rechtfertigen: „Die Ansicht, dass ein Ton beim Singen im Mund aufgebaut wird und mit einem Luftstrahl den Körper verlässt, ist falsch. Vielmehr wird der Ton durch eine stehende Luftsäule im Inneren des Körpers erzeugt“, erläutert Heinz Ferlesch. Ziel jeder Gesangsschulung sei es, so wenig Luft wie möglich zu verbrauchen. „Die Countertenöre des 18. Jahrhunderts haben nicht umsonst vor einer brennenden Kerze geübt – die Flamme hat sich nicht bewegen dürfen.“Die Berliner Charite,´ die Hochschule für Musik Freiburg oder die Medizinische Universität Wien konnten in Untersuchungen belegen, dass sich die Aerosolwolke, die beim Singen (genauso wie beim Reden oder Sporteln) ausgeatmet wird, maximal einen Meter vor einer Sängerin, einem Sänger ausbreitet. Mit anderen Worten: Wenn man einen Abstand von 1,5 Metern zum respektive zur Nächsten einhält, ist man auch beim Singen auf der sicheren Seite. Ferlesch ist überzeugt: „Beim lauten Sprechen im Wirtshaus in launiger Atmosphäre wird viel mehr Aerosol produziert als bei Sängerinnen und Sängern, die sich selbst immer schulen und deren Sinne durch das Stehen im Fokus der Öffentlichkeit ohnehin geschärft sind.“
Schon im April hat sich eine Reihe wichtiger Akteure zu einem Expertengremium zusammengetan, um der Politik und der Öffentlichkeit derartiges Grundwissen zu vermitteln – und um zu verhindern, dass das Singen vollends stigmatisiert wird. Es ging dabei nicht nur darum, dass Musikerinnen und Musiker wieder ihrer geliebten Tätigkeit nachgehen können und die Leere, die in den Herzen vieler Sängerinnen und Sänger entstanden ist, wieder mit Sinn gefüllt wird. „Wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck erzeugt wird, dass eine Gefahr von musizierenden Gruppen ausgeht, bekommt das Publikum Angst und geht nicht mehr in Konzerte. Die Veranstalter können dann immer weniger Einnahmen lukrieren und immer weniger Konzerte programmieren. Das ist ein Teufelskreis, der zum Tod der Musik führt.“Gemeinsam haben daher namhafte Proponenten der Chorszene – neben Ferlesch (Wiener Singakademie und Chor Ad Libitum) unter anderem Johannes Prinz (Wiener Singverein), Karl-Gerhard Straßl (Österreichischer Chorverband), Ingrid Kapsch (Wiener Singakademie) oder Dorothea Draxler (Volkskultur Niederösterreich) – einen umfassenden Maßnahmenkatalog ausgearbeitet, um mit den Corona-Risiken adäquat umzugehen.
Diese Empfehlung (abrufbar unter www.chorverband.at) versteht sich als „Anleitung zur verantwortungsvollen Wiederaufnahme der Proben- und Konzerttätigkeit“. Das umfasst Abstandhalten und das Anbringen von Bodenmarkierungen genauso wie die Desinfektion von Türklinken und Sesseln, das Proben in kleineren Gruppen, die Verlängerung von Pausen, in denen der Raum gründlich gelüftet wird, oder den Verzicht auf schweißtreibende Bewegungsübungen beim Einsingen. „Wir wollten, ausgehend vom semiprofessionellen Bereich, den Chorleiterinnen und Chorleitern in ganz Österreich eine praktische Handhabe geben – damit sie nicht sagen: Das wird mir jetzt alles zu mühsam, ich höre einfach auf. Denn dann würde sich jegliche ehrenamtliche Tätigkeit aufhören“, so Ferlesch.
„Das wäre der Tod der Musik“
Trotz dieser klaren Anleitungen, die von der Politik auch als Expertenempfehlung zur Kenntnis genommen wurden, ist es sehr schwierig und aufwendig, einen „normalen“Probenbetrieb oder gar Konzerte zu organisieren. Ferlesch hat das „Jahreszeiten“-Projekt wegen seiner hoffnungsvollen Passagen („Verleih uns Stärk’ und Mut!“) bewusst für den Wiederbeginn der Konzerttätigkeit gewählt. „Welchen Sinn hat es, wenn die Maßnahmen vorwiegend im kulturellen Bereich derartig verschärft werden, dass der Kulturbetrieb in der Kulturnation Österreich droht, mehr oder weniger zum Erliegen gebracht zu werden, weil die Leute erstens nicht mehr proben können und zweitens die Veranstalter keine relevanten Besucherzahlen mehr ins Publikum bringen können?“, fragt er. Die letzte Konsequenz daraus ist freilich klar: „Das wäre der Tod der Musik. Und was einmal kaputt ist, kann kaum wiederbelebt werden.“
Dass es nicht so weit kommen muss, zeigte das vergangene Wochenende. Das Publikum dankte mit Riesenjubel.