Einfach nur saugrantig
Die letzte Reise Gustav Mahlers nach Europa – diesmal erzählt von Robert Seethaler. Eine Episodenabfolge im noch wenig entwickelten Genre der FastForward-Biografie.
Die Mahler-Mode ist mir die ganzen Jahre entsetzlich gewesen, die ganze Welt war in einem richtigen Mahler-Taumel, das war schon unerträglich“, schimpft der selbst ernannte „Musikphilosoph“Reger in Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“. Mahler sei „der überschätzteste Komponist des Jahrhunderts“, mit Mahler habe die österreichische Musik „ihren absoluten Tiefstand erreicht, sagte Reger. Reinster Massenhysterie erzeugender Kitsch, so wie Klimt auch, sagte er.“
Viele Menschen amüsieren sich bei Bernhards Kabarett, und doch teilen sie seine Verteufelungen keineswegs: Für Kulturhistoriker ist Gustav Mahler eine schillernde Ikone des Fin de Si`ecle, die biografische Forschung hat jeden Waschzettel des Künstlers dreimal gewendet und durchleuchtet, der Musikwissenschaft sind seine Kompositionen immer noch ein unerschöpflicher Kosmos. Mehrere Schriftsteller haben Mahler zur literarischen Figur gemacht, es gibt zahlreiche Filme über ihn, die Klassik-Veranstalter führen seine Werke von morgens bis mitternachts auf. Was also kann man Neues berichten über Gustav M.?
Robert Seethaler beginnt, wie in Ken Russells Film „Mahler“(1974), mit der letzten Reise des Komponisten: Am 8. April 1911 bestieg Mahler in New York den Luxusliner „Amerika“und kehrte nach Europa zurück. 1907, nach heftigen, auch antisemitisch motivierten Anfeindungen, hatte er die Leitung der Wiener Hofoper abgegeben, seither arbeitete er vor allem mit der Metropolitan Opera und den New Yorker Philharmonikern zusammen. Mehrmals war er zwischen der neuen und der alten Welt hinund hergependelt.
Dies aber ist Mahlers letzte Reise. Kurz zuvor hat er noch in amerikanischen Städten Konzerte dirigiert, geschwächt geht er jetzt an Bord. Was einige für Fieber halten, ist in Wirklichkeit eine gefährliche Endokarditis, eine Entzündung der Herzinnenwand. Mahler ist ein kranker, von Todesängsten gequälter Mann. Das ist der seit Thomas Manns „Tod in Venedig“bekannte Topos, auf den sich auch Seethaler verlässt.
In Rückblenden erzählt der Autor Szenen aus Mahlers Leben. Wir sehen ihn beim Komponieren im Komponierhäuschen, wie er ein Motiv eines Vogelrufes aufgreift, bei den Proben mit dem Orchester, natürlich dürfen die ersten verliebten Wochen von Alma und Gustav nicht fehlen, wir nehmen einen kurzen Einblick in die Beziehung zu Alma, die in ihren Erinnerungen „Mein Leben“schrieb, diese Ehe sei ein „Abstraktum“gewesen, denn Mahler „fürchtete das Weib. Seine Angst ,heruntergezogen‘ zu werden, war grenzenlos, und so mied er das Leben, also das Weibliche.“
Erinnert wird an den Tod von Mahlers Tochter Marie, die nur vier Jahre alt wurde, es folgt die bekannte Briefszene von Toblach, und wir erleben die rasende Eifersucht auf den Architekten Walter Gropius, mit dem Alma ein Verhältnis angeknüpft hatte. Wir sind auch dabei, wenn Mahler im Atelier von Auguste Rodin Modell sitzt und einfach nur, pardon, saugrantig ist: Da prallen zwei Genies aufeinander, sie kennen sich nicht, aber sie hassen sich. Eine fabelhafte Szene.
Auch der nachmittägliche Spaziergang mit Sigmund Freud im Jahr 1910 in der belgischen Stadt Leiden wird aufgegriffen, obwohl wir über das Gespräch der beiden kaum etwas wissen. 2010 war diese Begegnung Anlass für die österreichische FilmProduktion „Mahler auf der Couch“, bei der Johannes Silberschneider den Komponisten und Karl Markovics den Sigmund Freud geben durften.
Der Verlag nennt die rasante Abfolge von Episoden einen Roman, das trifft es nicht, es handelt sich hier vielmehr um das noch wenig entwickelte Genre der Fast-Forward-Biografie. Derjenige, der mit Mahlers Leben vertraut ist, entdeckt hier nichts Neues, anderen wird vieles fehlen. Von „Wiener Gemeinheiten“ist die Rede, und dass man auf die „ganze faule, verlogene und hinterfotzige Bande der Wiener Hofoper“eine Wut kriegen kann. Richtig! Auch dass die hohe Kunst unter banalen Geräuschen wie Kinder- oder Kuhlärm immer so arg leiden muss – geschenkt! Nur: Wo ist der biografische Konflikt, was ist das Zentrum der Erzählung? Oder denkt Seethaler an einen Film? An eine schöne Rolle für sich? Handelt es sich um ein elaboriertes Treatment für ein Biopic? Oder haben wir es vielleicht mit einem weiteren Beispiel der Well-madeWohlfühlliteratur für die Bahnhofsbuchhandlung zu tun?
Die einzige Erfindung des Autors ist die Figur eines namenlosen Schiffsjungen. Er bringt den Gästen Tee auf das Oberdeck, erledigt Botendienste, mit ihm kann Mahler Small Talk machen, über das Meer, über fliegende Fische, über die Sonne und das Sterben. Die Konstellation ist simpel, aber effektiv, das hat schon Thomas Mann gewusst: Ein todgeweihtes Genie, Repräsentant der müde gewordenen Welt von gestern, begegnet einem frischen Bürschchen, das unbekümmert in die Zukunft blickt.
In diesen Koordinaten, Leben und Tod, Jung und Alt, blättert Seethaler Mahlers Leben mit flinken Fingern durch. Woran es nur liegen mag, dass dieser Boy so geheimnislos bleibt? Erstaunlich an dem jungen Mann ist lediglich, dass ausgerechnet er so viel von Wasserleichen, Toten, Erfrorenen und Ertrunkenen erzählt.
Schade auch, dass Seethaler von zwei prominenten Mitreisenden auf dem Schiff keine Notiz nimmt, von dem Komponisten Ferruccio Busoni, dessen Trauermusik „Berceuse el´egiaque“´ Mahler bei seinem letzten New Yorker Konzert dirigiert hatte, und von dem Schriftsteller Stefan Zweig, einem Verehrer des Komponisten. Auch aus der Tatsache, dass der Luxusdampfer kurze Zeit später, während des Ersten Weltkriegs, von der US-Navy für den Transport amerikanischer Soldaten nach Europa eingesetzt wurde, hätte man Gewinn ziehen können. Aber der zeitgeschichtliche Rahmen interessiert den Autor nicht.
Fin de Si`ecle sells? Nach Sigmund Freud und Trafikant nun Gustav Mahler und Schiffsjunge. Wie geht es weiter? Gustav Klimt und das unbekannte Modell? Arthur Schnitzler und das süße Mädel? Max Reinhardt und sein Chauffeur? Karl Kraus und der 17-jährige Zeitungskolporteur? Wenn das keine Vorgaben für Bestseller sind!