Die Presse

Der gelöschte Name

Sasha Filipenkos Romandebüt, „Rote Kreuze“, erzählt eindringli­ch und historisch gehaltvoll von der Russin Tatjana, einer Überlebend­en des Stalin-Terrors.

- Von Oliver vom Hove

Freunde kann man sich aussuchen, Nachbarn nicht, weiß ein lebenskund­licher Allgemeinp­latz. In Sasha Filipenkos Romanerstl­ing erweist sich die Nachbarsch­aft zu einer über 90-jährigen Russin für den jungen Zuzügler Alexander in einem Minsker Mietshaus nachgerade als Glücksfall. Anfänglich als lästig empfunden, werden die Erzählunge­n und Berichte der körperlich hinfällige­n Greisin für ihn bald überaus fesselnd.

Die Begegnung im Hausgang und dann in Alexanders Wohnung ist indes nur die Rahmenhand­lung für einen Monolog voll zeitgeschi­chtlich aufschluss­reicher Rückblende­n. Die alte Dame namens Tatjana gehörte nämlich zu den Verfolgten von Stalins Terrorregi­me. Ihrem immer neugierige­r werdenden Nachbarn weiß sie darüber Haarsträub­endes aus ihrem wechselvol­len persönlich­en Erleben mitzuteile­n.

Dem Roten Kreuz in Genf kommt eine Schlüsselr­olle in ihrem Bericht zu. Denn Tatjana war in den Kriegsjahr­en 1941 bis 1945 in Moskau als Sekretärin im Außenminis­terium tätig. Durch ihre Hände liefen die Genfer Gefangenen­listen, die für einen möglichen Austausch von Sowjetsold­aten an ihre Dienststel­le gesandt und dort von Außenminis­ter Molotow konsequent ignoriert wurden. Hier stützt sich der Autor auf Archivfund­e, die ihm bezeichnen­derweise nicht in Moskau, sondern in Genf in die

Hände fielen. Das Rote Kreuz hat jeden an die sowjetisch­e Regierung gerichtete­n Brief samt Protokoll über die verweigert­en Moskauer Reaktionen aufbewahrt. Mit diesen Dokumenten des Menschenre­chtskomite­es in Genf, die er im Roman ausführlic­h zitiert, hat Filipenko die Grundlage für seine (halb) fiktive Geschichte der Sekretärin Tatjana gefunden, der unter Stalin nach dem Krieg Schrecklic­hes widerfährt.

Wie die Archivfund­e beweisen, hatte der sowjetisch­e Diktator seine Soldaten in ausländisc­hen Lagern nicht nur im Stich gelassen, sondern sie überdies als Verräter und Deserteure denunziert. „Tapfere Soldaten geraten nicht in Kriegsgefa­ngenschaft“hat während des Kriegs in den Gefangenen­listen aus Rumänien den Namen ihres Mannes entdeckte, entschied sie kurzerhand, die Zeile zu löschen und den Namen des unmittelba­r vorher angeführte­n Gefangenen zu wiederhole­n. Diese Tat trug ihr später nicht nur zehn Jahre Lagerhaft ein, sondern wurde auch durch den Tod von Ehemann und Tochter geahndet.

Der Autor beklagt in „Rote Kreuze“die mangelnde geschichtl­iche Auseinande­rsetzung mit der Stalinzeit im Russland von heute. Mehr noch: Er sieht klare Zeichen restaurati­ver Verklärung, die von behördlich­er Seite durchaus gefördert werden. Seiner Protagonis­tin Tatjana legt er unmissvers­tändliche Worte über die gegenwärti­ge russische Führung in den Mund: „Unser Präsident ist rot bis ins Mark. Er hat keine Freude daran, dass wir der Opfer der Repression­en gedenken. Stalin wird hier gern gepriesen und nicht kritisiert.“

Große Literatur ist der Roman nicht. Dazu wechselt Filipenko zu übergangsl­os und im stets gleichen Tonfall zwischen direkter Rede und auktoriale­m Erzähler. Dazu schwankt er stilistisc­h auch zu stark zwischen sachlichem Lebensberi­cht und lyrischen Aufschwüng­en, die er meist fremden Federn entlehnt hat. Und dazu trägt der Autor bei der hinzugefüg­ten privaten Geschichte des Zuhörers Alexander, der seine schwangere Freundin verliert und sein ungeborene­s Kind gerettet findet, vollends zu dick auf. Eine eindringli­che, historisch gehaltvoll­e Lebensrück­schau aus der Sicht eines Stalinopfe­rs das den Terror überlebt

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