Die verlorene Generation
Wendepunkt. Eben noch als digitale Heilsbringer umschwärmt, scheint in der Krise niemand mehr auf Millennials zu setzen. Der beste Rat für sie: Kontakte knüpfen und Netzwerke pflegen.
Noch vor einem halben Jahr drehte sich alles um die Jungen. Nur sie, so hieß es, hätten die geistige Frische, die digitale Revolution zu tragen. „Ihr versteht die Welt nicht mehr“, ätzte etwa Jungunternehmer Samuel Koch in seinem gleichnamigen Aufregerbuch in Richtung Ältere. Macht Platz für die Jungen, so sein Appell, ihr steht ihnen und dem Fortschritt nur im Weg.
Personalisten hörten das nur allzu gern. Her mit den digital fitten, formbaren und obendrein preisgünstigen Millennials! Diese wiederum genossen es vom Lehrling bis zum Jungakademiker, der demografiebedingt allseits umschwärmte Mittelpunkt zu sein. Erstmals in der Wirtschaftsgeschichte bewarben sich Unternehmen bei Kandidaten und nicht umgekehrt. Nie hatte es eine Generation beim Berufseinstieg leichter.
Personalisten schreckte dabei nur ein neues Buzzword, FOMO, „fear of missing out“, die Angst, etwas noch Besseres zu verpassen, wenn man sich mit Haut und Haaren auf einen Arbeitgeber einlässt. Wer so begehrt ist, muss nicht treu sein.
Kehrtwende
Ein halbes Jahr später ist alles anders. Musste ein Unternehmen coronabedingt kündigen, erwischte es zuerst die Jungen. Wo aber jetzt vorsichtig wieder offene Stellen aufpoppen, werden sie mit krisenresistenten Erfahrenen besetzt.
„Am besten ist derzeit die Generation X dran“, analysiert Karriere- und Gehaltsexperte Conrad Pramböck. 40- bis 50-Jährige, praxisfest, sturmerprobt ohne lange Einschulung sofort ins Leisten kommend – genau wie man es jetzt braucht. Die verhätschelten Generationen Y und Z hingegen, der Nachwuchs eben, erwarteten wie gewohnt ein aufwendiges Onboarding und eine fürsorgliche Integration. Dafür hat jetzt keiner Zeit.
So wird für Pramböck, der auch an sechs Fachhochschulen lehrt, aus der umschwärmten Generation der Millennials schlagartig eine verlorene. Er untermauert das mit Beispielen, beginnend in Schule, Uni und FH: eine Illusion, dass beim Distance Learning so viel hängen bliebe wie beim realen, das über alle Sinne, mit Diskussion und Rollenspiel erfolge.
Auch um praktische und soziale Erfahrungen würden die Jungen dabei betrogen: Wessen Leben wäre ohne Kollegen und gemeinsamen Abenteuer nicht ärmer? Wer lernte auf Reisen oder auf Auslandssemester nicht mehr fürs Leben als ihm das Internet je beibringen könnte? All das fällt beim Distance Learning flach.
Überangepasst
Dennoch, und das wundert Pramböck, muckt die verlorenen Jungen – an manchen Stellen nennt er sie die „Betrogenen“– nicht auf. Mit Staunen erkennt er in seinen Studenten eine angepasste („manchmal überangepasste“) Generation, die sich ohne Gegenwehr auf ein neues Semester Homeschooling/ studying einstellt, die Werte der Eltern nachbetet und Sicherheit über alles stellt. „Ich würde mir das nicht gefallen lassen“, sinniert er.
Ohne Kontakte kein Job
Das coronabedingt zum Erliegen gekommene Sozialleben hat noch eine Konsequenz. Gerade die Kontakte, die man in den Ausbildungsjahren knüpft – zu Mitschülern, Studienkollegen, Lehrern, Assistenten, Professoren – sind für den Berufseinstieg die wertvollsten. Ohne Kontakte stehen die Chancen gar nicht gut. Nicht nur gibt es wenige Anfängerstellen, sie finden sich auch vor allem im verdeckten Arbeitsmarkt.
In Zeiten der Hochkonjunktur gilt, dass 70 Prozent aller Jobs über Empfehlungen vergeben werden. Folgt ein Arbeitgeber einer solchen Empfehlung, färbt der gute Ruf eines vertrauenswürdigen Empfehlers auf den Empfohlenen ab (Halo-Effekt) und man spart sich obendrein die Suchkosten. Doch welchem Professor fallen in Zeiten erzwungener Fernlehre besonders vife Studenten auf?
Pramböck schüttelt sich, wenn er so manche Beobachtung während seiner Videovorlesungen hervorholt: Manche Teilnehmer lagen noch im Bett, andere kochten Mittagessen oder löffelten es. Es ist nicht anzunehmen, dass er sie weiterempfiehlt.
Im Umkehrschluss: Der beste Rat für die Karriere ist, sogar jetzt mit Nachdruck ein Netzwerk potenzieller Empfehler aufzubauen.
Einstiegsgehälter stabil
Natürlich ist nicht alles trist. Technik- und IT-Absolventen, sagt Pramböck, seien auch jetzt überall willkommen. Auch Wirtschaftsabsolventen mit guten Noten hätten ebensolche Chancen.
Die Einstiegsgehälter blieben dabei annähernd stabil. In den Jahren vor Corona kletterten sie erstmals schneller als die Inflation, nun stagnieren sie (siehe Tabelle).
Für Blindbewerbungen sind große Unternehmen erfolgversprechender, weil sie meist über eine gute Kapitaldecke verfügen. Vor Banken und Versicherungen warnt Pramböck: „Ab Herbst werden sie unter Druck kommen.“
Nicht einmal für die gebeutelte Hotellerie sieht er schwarz, wenn man denn Beweglichkeit beweise: „Nicht in die Städte gehen, aufs Land!“Oder wenn man selbst etwas auf die Beine stellt. So wie jene fünf Tourismusfachschüler, denen coronabedingt ihr Pflichtpraktikum abgesagt wurde. Sie stampften kurzerhand das Pop-up-Lokal „Die Boys & Marie“aus dem Boden. Was sie dabei lernten, ist mehr wert als jede Schule. Und angerechnet wird es ihnen auch.