Wo in Europa eine zweite Welle droht
Corona. Die Neuinfektionen in Europa und Russland steigen rasant – stärker sogar als in den USA und Indien. Ein Überblick zu den Ländern, die derzeit ganz besonders betroffen sind oder einen neuen Höhepunkt befürchten.
Die Neuinfektionen steigen in Europa sogar stärker als in den USA und Indien.
Wien. Nach einem angenehm lockeren Sommer mit nur begrenzten Corona-Sicherheitsmaßnahmen droht Europa nun ein strenger Herbst. Denn inzwischen steigen die täglichen Neuinfektionen schneller als bei den „Rekordhaltern“Indien oder Brasilien. In Brüssel und in den europäischen Hauptstädten tagen die Krisenstäbe, Maßnahmen werden ständig verschärft, doch vor „totalen Lockdowns“schrecken auch die am stärksten betroffenen Länder noch zurück. Zugleich ist die Angst vor einer zweiten Welle groß. Nach Ansicht einiger Experten ist diese schon längst eingetroffen. Hier ein Überblick zu Europas Hotspots:
Frankreich
Frankreich meldete am Wochenende fast 27.000 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden – so viele neue Covid-19-Erkrankte gab es noch nie seit Beginn der Pandemie. Besorgniserregend ist aber vor allem: Die Zahl der Coronapatienten auf den Intensivstationen erreicht derzeit den höchsten Stand seit Mai. Krankenhaus- und Labor-Angestellte sind überlastet, immer wieder kam es zuletzt zu Protesten und Forderungen nach Hilfe und mehr Personal.
Seit Wochen verschlechtert sich die Lage im 67-Millionen-Einwohner-Land. Und während anfangs vor allem junge Menschen betroffen waren, erkranken jetzt vermehrt wieder ältere Bürger. Dass die Regierung in Paris die Pandemie nicht in den Griff bekommt, wird unter anderem mit verfrühten Öffnungen im Sommer und zu laschen Kontrollen der Maßnahmen in Verbindung gebracht. Inzwischen wurde in zahlreichen französischen Metropolen, darunter Paris und Lyon, die höchste Corona-Warnstufe ausgerufen. Bars sind geschlossen, in Restaurants gelten strengere Hygienemaßnahmen. Ausgeweitet wurden diese Regeln gestern auf Toulouse und Montpellier. Vor nationalen Maßnahmen schreckte Paris bisher zurück. Doch nun erwägt man doch eine landesweite abendliche Ausgangssperre.
Spanien
In keinem anderen europäischen Land sind die Infektionszahlen (fast 889.000 Fälle) so hoch wie im 47-Millionen-EinwohnerLand – und in keiner anderen EU-Metropole breitet sich das Virus so schnell aus wie in Madrid: Die Spitäler sind überfüllt, das Personal überfordert. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand und – nach heftigen Streitereien mit lokalen Behörden – partiellen Ausgangssperren in Madrid sowie acht angrenzenden Orten: Man darf weder diese Städte verlassen noch in sie reisen.
Einschränkungen wie Sperrstunden und Schutz-Regelungen gelten auch in anderen Regionen. Dass Spanien die Pandemie nicht in den Griff bekommt, liegt wohl an zu frühen Öffnungen im Sommer. Ein Grund ist auch der lähmende Streit zwischen der Zentralregierung und den Regionen, die für Gesundheitspolitik zuständig sind – Madrid etwa zögerte lang, die Sperren umzusetzen.
Italien
Italien lebt nach den traumatischen Pandemie-Erfahrungen im Frühjahr in Angst vor einer zweiten Welle. Auch dank anhaltend strikter Maßnahmen wurde die Infektionslage bisher unter Kontrolle gehalten. Doch nun steigen die Zahlen wieder. Laut einer Studie des Forschungsinstitutes Gimbe sind die Neuinfektionen innerhalb der ersten Oktoberwoche um mehr als 42 Prozent gestiegen, in sieben Regionen wachse die Anzahl der Coronapatienten in Spitälern zu schnell. Als möglicher „Infektionscluster“nennen die Forscher die überfüllten öffentlichen Transportmittel. Als „Superspreader-Events“gelten auch private Feiern.
Das 60-Millionen-Einwohner-Land hofft, eine zweite Ausbruchswelle dank der verschärften Regeln zu verhindern: Zusätzlich zur Maskenpflicht im Freien gelten Sperrstunden für Lokale, Nachtclubs bleiben geschlossen, bei privaten Feiern darf nur eine begrenzte Zahl an Gästen eingeladen werden.
Niederlande, Belgien
In den Niederlanden soll das soziale Leben zurückgefahren werden, denn auch dort klettern die Werte in Rekordhöhen: Am Montag meldeten die Behörden fast 7000 neue Positiv-Tests. Mannschaftssport für Erwachsene wurde bis auf Weiteres verboten. Öffentliche Verkehrsmittel solle man nur wenn unbedingt nötig benutzen. Private Einladungen werden auf drei Personen pro Haushalt begrenzt. Restaurants und Cafes´ müssen vorerst zumachen. Ähnliches gilt bereits im Nachbarland Belgien. Auch dort sind es vor allem die Jüngeren, die das Virus weitergeben. Daher haben in Brüssel Cafes´ und Bars geschlossen, im Rest des Landes gilt eine Sperrstunde ab 23.00 Uhr. Auch Belgier dürfen nur noch mit drei Personen außerhalb der Familie engen Kontakt pflegen.
Tschechien
Das Wort „Lockdown“nahm der tschechische Gesundheitsminister, Roman Prymula, nicht in den Mund, als er die neuen Coronamaßnahmen verkündete: Doch Restaurantund Barbetreiber sprechen von eben diesem zweiten Lockdown, der sie schon wieder treffe: Ab heute, Mittwoch, müssen sie für zunächst zwei Wochen zumachen. Und der Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen ist verboten. So will man die abendlichen Partys in den Städten unter Kontrolle bringen. In Tschechien ist die Rate an Neuinfektionen besonders hoch. Zuletzt steckten sich innerhalb von 24 Stunden mehr als 8000 Menschen an. Der Fernunterricht für Schulen war bisher nur für Oberstufen vorgesehen, wird aber auf weitere Klassen ausgeweitet. Geschäfte bleiben geöffnet.
Im Nachbarland Slowakei gelten ähnliche Regelungen, wobei seit Anfang der Woche auch im Freien ein Nasen-Mund-Schutz getragen werden muss. Innerhalb der Koalitionsregierung in Bratislava ist zudem ein heftiger Richtungsstreit über die neuen Bestimmungen entbrannt.
Großbritannien
14.000 Neuansteckungen innerhalb von 24 Stunden und zu wenige Tests: Experten bezeichnen die Lage in Großbritannien als katastrophal und fordern einen zweiten Lockdown. Doch Premier Boris Johnson will ein Szenario wie bei der ersten Ausbruchswelle im Frühjahr vermeiden. Am Montag hat er ein dreistufiges System für den Landesteil England vorgestellt. Dort sollen je nach Risikograd – mittel, hoch oder sehr hoch – ab Mittwoch verschärfte Regeln gelten. Schulen und Universitäten in England sollen aber geöffnet bleiben. Gerade aus den Hochschulen werden allerdings hohe Infektionszahlen gemeldet. An manchen Unis wurden ganze Wohnheime unter Quarantäne gestellt.
Betroffen ist vor allem der Norden Englands. Statistiken zufolge verzeichnen vor allem ärmere Gebiete etwa in Manchester und Liverpool hohe Infektionszahlen. Laut Experten stehen die bereits überlasteten Kliniken dort vor dem Kollaps. Eines der Probleme in Großbritannien: Jeder Landesteil verhängt seine eigenen Maßnahmen, entstanden ist ein unübersichtlicher Fleckerlteppich, über den nicht einmal mehr die Regierung den Überblick zu haben scheint. In Schottland gelten bereits verschärfte Regeln. In Wales und Nordirland wird über weitere Schritte noch beraten.
Russland
Fast jeden Tag ein neuer Corona-Rekord: 13.868 Covid-Neuansteckungen zählte Russland am Dienstag. Das ist neuer Höchst-Tageswert seit Beginn der Pandemie in dem 144-Millionen-Einwohner-Land. Die meisten Erkrankungen verzeichnet man in Moskau (4618). Der Kreml will einen Lockdown aus wirtschaftlichen Gründen um jeden Preis vermeiden. Menschen ab 65 Jahren sind zum Daheimbleiben angehalten, Schüler werden in verlängerte Herbstferien und Distanzunterricht geschickt.
Unternehmen müssen mindestens 30 Prozent ihres Personal im Home-Office unterbringen. Eine „Blockade der Wirtschaft“sei nicht notwendig, versicherte Anna Popowa, Chefin der Konsumentenschutzbehörde Rospotrebnadsor. Popowa verwies auf ausreichend Spitalsbetten sowie verbesserte medikamentöse Behandlung im Vergleich zum Frühjahr. Mit einer Informationskampagne soll nun die Bevölkerung zur Einhaltung der Hygieneregeln motiviert werden.
Strafen bei „Covid-Dissidententum“(Popowa) werden derzeit zur allgemeinen Abschreckung tatsächlich verhängt und in Medien entsprechend publik gemacht. Und so lassen sich im Moskauer Stadtbild wieder mehr (korrekt getragene) Gesichtsmasken beobachten, nachdem die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr, in Geschäften und Lokalen von Behörden und Bürgern wochenlang weitgehend ignoriert worden war.