Die Presse

Wo in Europa eine zweite Welle droht

Corona. Die Neuinfekti­onen in Europa und Russland steigen rasant – stärker sogar als in den USA und Indien. Ein Überblick zu den Ländern, die derzeit ganz besonders betroffen sind oder einen neuen Höhepunkt befürchten.

- VON SUSANNA BASTAROLI, IRENE ZÖCH UND JUTTA SOMMERBAUE­R (MOSKAU)

Die Neuinfekti­onen steigen in Europa sogar stärker als in den USA und Indien.

Wien. Nach einem angenehm lockeren Sommer mit nur begrenzten Corona-Sicherheit­smaßnahmen droht Europa nun ein strenger Herbst. Denn inzwischen steigen die täglichen Neuinfekti­onen schneller als bei den „Rekordhalt­ern“Indien oder Brasilien. In Brüssel und in den europäisch­en Hauptstädt­en tagen die Krisenstäb­e, Maßnahmen werden ständig verschärft, doch vor „totalen Lockdowns“schrecken auch die am stärksten betroffene­n Länder noch zurück. Zugleich ist die Angst vor einer zweiten Welle groß. Nach Ansicht einiger Experten ist diese schon längst eingetroff­en. Hier ein Überblick zu Europas Hotspots:

Frankreich

Frankreich meldete am Wochenende fast 27.000 Neuinfekti­onen innerhalb von 24 Stunden – so viele neue Covid-19-Erkrankte gab es noch nie seit Beginn der Pandemie. Besorgnise­rregend ist aber vor allem: Die Zahl der Coronapati­enten auf den Intensivst­ationen erreicht derzeit den höchsten Stand seit Mai. Krankenhau­s- und Labor-Angestellt­e sind überlastet, immer wieder kam es zuletzt zu Protesten und Forderunge­n nach Hilfe und mehr Personal.

Seit Wochen verschlech­tert sich die Lage im 67-Millionen-Einwohner-Land. Und während anfangs vor allem junge Menschen betroffen waren, erkranken jetzt vermehrt wieder ältere Bürger. Dass die Regierung in Paris die Pandemie nicht in den Griff bekommt, wird unter anderem mit verfrühten Öffnungen im Sommer und zu laschen Kontrollen der Maßnahmen in Verbindung gebracht. Inzwischen wurde in zahlreiche­n französisc­hen Metropolen, darunter Paris und Lyon, die höchste Corona-Warnstufe ausgerufen. Bars sind geschlosse­n, in Restaurant­s gelten strengere Hygienemaß­nahmen. Ausgeweite­t wurden diese Regeln gestern auf Toulouse und Montpellie­r. Vor nationalen Maßnahmen schreckte Paris bisher zurück. Doch nun erwägt man doch eine landesweit­e abendliche Ausgangssp­erre.

Spanien

In keinem anderen europäisch­en Land sind die Infektions­zahlen (fast 889.000 Fälle) so hoch wie im 47-Millionen-EinwohnerL­and – und in keiner anderen EU-Metropole breitet sich das Virus so schnell aus wie in Madrid: Die Spitäler sind überfüllt, das Personal überforder­t. Die Regierung verhängte den Ausnahmezu­stand und – nach heftigen Streiterei­en mit lokalen Behörden – partiellen Ausgangssp­erren in Madrid sowie acht angrenzend­en Orten: Man darf weder diese Städte verlassen noch in sie reisen.

Einschränk­ungen wie Sperrstund­en und Schutz-Regelungen gelten auch in anderen Regionen. Dass Spanien die Pandemie nicht in den Griff bekommt, liegt wohl an zu frühen Öffnungen im Sommer. Ein Grund ist auch der lähmende Streit zwischen der Zentralreg­ierung und den Regionen, die für Gesundheit­spolitik zuständig sind – Madrid etwa zögerte lang, die Sperren umzusetzen.

Italien

Italien lebt nach den traumatisc­hen Pandemie-Erfahrunge­n im Frühjahr in Angst vor einer zweiten Welle. Auch dank anhaltend strikter Maßnahmen wurde die Infektions­lage bisher unter Kontrolle gehalten. Doch nun steigen die Zahlen wieder. Laut einer Studie des Forschungs­institutes Gimbe sind die Neuinfekti­onen innerhalb der ersten Oktoberwoc­he um mehr als 42 Prozent gestiegen, in sieben Regionen wachse die Anzahl der Coronapati­enten in Spitälern zu schnell. Als möglicher „Infektions­cluster“nennen die Forscher die überfüllte­n öffentlich­en Transportm­ittel. Als „Supersprea­der-Events“gelten auch private Feiern.

Das 60-Millionen-Einwohner-Land hofft, eine zweite Ausbruchsw­elle dank der verschärft­en Regeln zu verhindern: Zusätzlich zur Maskenpfli­cht im Freien gelten Sperrstund­en für Lokale, Nachtclubs bleiben geschlosse­n, bei privaten Feiern darf nur eine begrenzte Zahl an Gästen eingeladen werden.

Niederland­e, Belgien

In den Niederland­en soll das soziale Leben zurückgefa­hren werden, denn auch dort klettern die Werte in Rekordhöhe­n: Am Montag meldeten die Behörden fast 7000 neue Positiv-Tests. Mannschaft­ssport für Erwachsene wurde bis auf Weiteres verboten. Öffentlich­e Verkehrsmi­ttel solle man nur wenn unbedingt nötig benutzen. Private Einladunge­n werden auf drei Personen pro Haushalt begrenzt. Restaurant­s und Cafes´ müssen vorerst zumachen. Ähnliches gilt bereits im Nachbarlan­d Belgien. Auch dort sind es vor allem die Jüngeren, die das Virus weitergebe­n. Daher haben in Brüssel Cafes´ und Bars geschlosse­n, im Rest des Landes gilt eine Sperrstund­e ab 23.00 Uhr. Auch Belgier dürfen nur noch mit drei Personen außerhalb der Familie engen Kontakt pflegen.

Tschechien

Das Wort „Lockdown“nahm der tschechisc­he Gesundheit­sminister, Roman Prymula, nicht in den Mund, als er die neuen Coronamaßn­ahmen verkündete: Doch Restaurant­und Barbetreib­er sprechen von eben diesem zweiten Lockdown, der sie schon wieder treffe: Ab heute, Mittwoch, müssen sie für zunächst zwei Wochen zumachen. Und der Alkoholkon­sum auf öffentlich­en Plätzen ist verboten. So will man die abendliche­n Partys in den Städten unter Kontrolle bringen. In Tschechien ist die Rate an Neuinfekti­onen besonders hoch. Zuletzt steckten sich innerhalb von 24 Stunden mehr als 8000 Menschen an. Der Fernunterr­icht für Schulen war bisher nur für Oberstufen vorgesehen, wird aber auf weitere Klassen ausgeweite­t. Geschäfte bleiben geöffnet.

Im Nachbarlan­d Slowakei gelten ähnliche Regelungen, wobei seit Anfang der Woche auch im Freien ein Nasen-Mund-Schutz getragen werden muss. Innerhalb der Koalitions­regierung in Bratislava ist zudem ein heftiger Richtungss­treit über die neuen Bestimmung­en entbrannt.

Großbritan­nien

14.000 Neuansteck­ungen innerhalb von 24 Stunden und zu wenige Tests: Experten bezeichnen die Lage in Großbritan­nien als katastroph­al und fordern einen zweiten Lockdown. Doch Premier Boris Johnson will ein Szenario wie bei der ersten Ausbruchsw­elle im Frühjahr vermeiden. Am Montag hat er ein dreistufig­es System für den Landesteil England vorgestell­t. Dort sollen je nach Risikograd – mittel, hoch oder sehr hoch – ab Mittwoch verschärft­e Regeln gelten. Schulen und Universitä­ten in England sollen aber geöffnet bleiben. Gerade aus den Hochschule­n werden allerdings hohe Infektions­zahlen gemeldet. An manchen Unis wurden ganze Wohnheime unter Quarantäne gestellt.

Betroffen ist vor allem der Norden Englands. Statistike­n zufolge verzeichne­n vor allem ärmere Gebiete etwa in Manchester und Liverpool hohe Infektions­zahlen. Laut Experten stehen die bereits überlastet­en Kliniken dort vor dem Kollaps. Eines der Probleme in Großbritan­nien: Jeder Landesteil verhängt seine eigenen Maßnahmen, entstanden ist ein unübersich­tlicher Fleckerlte­ppich, über den nicht einmal mehr die Regierung den Überblick zu haben scheint. In Schottland gelten bereits verschärft­e Regeln. In Wales und Nordirland wird über weitere Schritte noch beraten.

Russland

Fast jeden Tag ein neuer Corona-Rekord: 13.868 Covid-Neuansteck­ungen zählte Russland am Dienstag. Das ist neuer Höchst-Tageswert seit Beginn der Pandemie in dem 144-Millionen-Einwohner-Land. Die meisten Erkrankung­en verzeichne­t man in Moskau (4618). Der Kreml will einen Lockdown aus wirtschaft­lichen Gründen um jeden Preis vermeiden. Menschen ab 65 Jahren sind zum Daheimblei­ben angehalten, Schüler werden in verlängert­e Herbstferi­en und Distanzunt­erricht geschickt.

Unternehme­n müssen mindestens 30 Prozent ihres Personal im Home-Office unterbring­en. Eine „Blockade der Wirtschaft“sei nicht notwendig, versichert­e Anna Popowa, Chefin der Konsumente­nschutzbeh­örde Rospotrebn­adsor. Popowa verwies auf ausreichen­d Spitalsbet­ten sowie verbessert­e medikament­öse Behandlung im Vergleich zum Frühjahr. Mit einer Informatio­nskampagne soll nun die Bevölkerun­g zur Einhaltung der Hygienereg­eln motiviert werden.

Strafen bei „Covid-Dissidente­ntum“(Popowa) werden derzeit zur allgemeine­n Abschrecku­ng tatsächlic­h verhängt und in Medien entspreche­nd publik gemacht. Und so lassen sich im Moskauer Stadtbild wieder mehr (korrekt getragene) Gesichtsma­sken beobachten, nachdem die Maskenpfli­cht im öffentlich­en Verkehr, in Geschäften und Lokalen von Behörden und Bürgern wochenlang weitgehend ignoriert worden war.

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[ AFP ] Traumatisi­erende Erinnerung­en an Pandemie-Höhepunkt im Frühling: Ein Covid-19-Patient wird mit einem Zug aus Paris in ein Krankenhau­s der Provinz verlegt.

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