Die Presse

London hat EU vor den Kopf gestoßen

Brexit. Brüssel und London versuchen, die Gespräche über ein gemeinsame­s Handelsabk­ommen noch zu retten. Vielleicht wurde aber schon zu viel diplomatis­ches Porzellan zerschlage­n.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. China nimmt für sich in Anspruch, das Pingpongsp­iel erfunden zu haben. Aber das Urheberrec­ht für das diplomatis­che Äquivalent eines ewigwähren­den Hin-und-Her könnten die Führungen Großbritan­niens und der EU mit gutem Recht für sich beanspruch­en. Wenige Stunden vor dem nächsten EU-Gipfel, der morgen, Donnerstag, in Brüssel beginnt, gab es für eine Einigung in den Verhandlun­gen über die Beziehunge­n nach Inkrafttre­ten des Brexit zu Jahresende weiter keine Anzeichen.

Der britische Premiermin­ister, Boris Johnson, hatte im Sommer Donnerstag, den 15. Oktober, zum Stichtag ausgerufen: Wenn bis dahin keine Vereinbaru­ng „in Sicht“sei, werde London die Verhandlun­gen ergebnislo­s beenden. Die relativ weichen Worte „in Sicht“wurde umgehend in eine harte Deadline uminterpre­tiert, während EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier stets Ende Oktober bis Anfang November als entscheide­nden Zeitpunkt bezeichnet­e, um eine allfällige Einigung unter Dach und Fach zu bringen.

Der erhöhte Zeitdruck und intensivie­rte Gespräche brachten aber nicht den von Johnson geforderte­n „Tiger im Tank“. Stattdesse­n bleiben Staatsbeih­ilfen, Fischerei und Streitbeil­egung seit vielen Monaten das umstritten­e, unbewältig­te Thema.

Der EU-Gipfel in Brüssel wird daher aller Voraussich­t nach nicht das Ende der Post-Brexit-Verhandlun­gen ausrufen, sondern die Staats- und Regierungs­chefs werden den Spielraum ihres Gesprächsf­ührers Barnier genau überdenken. Bei der Fischerei drängt Frankreich unveränder­t auf (s)eine harte Linie, aber Barnier selbst ersuchte die zuständige­n EU-Minister schon, „Grundlinie­n für einen Kompromiss auszuarbei­ten“. Umgekehrt stellte der britische Chefunterh­ändler, David Frost, bei der Frage der Regelgleic­hheit die Anerkennun­g von „Verpflicht­ungen, die man normalerwe­ise nicht in einem Freihandel­sabkommen findet“, durch

London in Aussicht.

Wesentlich erschwert hat eine Einigung das britische Binnenmark­tgesetz, das nicht nur den bestehende­n Brexit-Vertrag aushebelt, sondern auch gegen alle Warnungen durch das Londoner Unterhaus gepeitscht wurde. Die EUKommissi­on reagiert mit der Einleitung eines Vertragsve­rletzungsv­erfahrens, ein symbolträc­htiger, letztlich aber zahnloser Akt. Viel schwerer erweist es sich dagegen für die Regierung in London, zerschlage­nes diplomatis­ches Porzellan zu kitten: „Nach diesem Fiasko wird die EU auf einem sehr harten und bindenden Mechanismu­s zur Streitbeil­egung bestehen“, sagt ein Diplomat. Erste Vorschläge dazu wurden bereits ausgearbei­tet.

Insbesonde­re bei der deutschen Regierung, die London traditione­ll als Verbündete­n ansieht, habe London nun einen schweren

Stand. „Was da passiert ist, hat wirklich die europäisch­e Position verhärtet, insbesonde­re die deutsche“, heißt es. „Für die Deutschen ist es unvorstell­bar, das Völkerrech­t zu brechen.“

„Kritischer Punkt erreicht“

Wie zur Bestätigun­g warnte der deutsche Europamini­ster, Michael Roth, gestern: „Wir befinden uns an einem sehr kritischen Punkt. Wir stehen extrem unter Druck, und die Zeit läuft ab.“In London sieht man dagegen den Ball im Feld der EU: „Es liegt letztlich an der EU, denselben guten Willen, denselben Pragmatism­us und dieselbe Flexibilit­ät zu zeigen, wie sie Großbritan­nien und unser Premiermin­ister schon demonstrie­rt haben“, sagte Außenminis­ter Dominic Raab im Unterhaus.

Auf beiden Seiten richtete man sich daher schon auf eine Fortsetzun­g der Verhandlun­gen ein. Barnier betonte gestern: „Die EU wird in den kommenden Tagen und Wochen weiter an einem fairen Abkommen arbeiten.“Die Replik aus London dazu: „Die alte EUTaktik mit dem Spiel auf Zeit wird nicht aufgehen: Mittlerwei­le halten wir bei Mitte Oktober und haben eine Menge Arbeit vor uns, die längst erledigt sein könnte.“

Wie das Match zwischen Brüssel und London ausgeht, beunruhigt auch die Märkte. Man weiß aber auch hier nicht, wie es enden wird: „Das Pfund ist sehr schwach, aber es hat keinen Sinn, in die Währung zu investiere­n, weil ein No-Deal-Brexit wahrschein­lich ist“, warnte gestern die französisc­he Bank SocGen. Dagegen meinten die Analysten der Danske Bank: „Die wahre Deadline ist nicht jetzt oder Ende Oktober, sondern am 31. Dezember. Und am Ende werden sie ein Abkommen schließen.“

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[ Reuters ] Premiermin­ister Boris Johnson liebt das druckvolle Machtspiel in schwierige­n Verhandlun­gen. Hat er diesmal übertriebe­n?

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