Enttäuschte „Große Erwartungen“
Rezension. Der niederländische Essayist Geert Mak beschreibt eindrucksvoll, wie Krisen die Europäische Union in den vergangenen zwei Jahrzehnten geprägt haben.
Wien. Geert Mak lässt sein neues Buch über das europäische Einigungswerk dort beginnen, wo er sein letztes Opus magnum, „In Europa“, beendet hat: im Jahr 1999. Hatte sich der Niederländer, Jahrgang 1946, zuvor der Nachkriegsgeschichte gewidmet, wirft er nun seinen Blick auf die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Das von ihm beschriebene Panorama ist alles andere als schön anzusehen.
Die titelgebenden „großen Erwartungen“knüpfen an die Jahrtausendwende an, dem Jahr 1999 kommt dabei die Rolle eines Scheitelpunkts zu – ging es bis dahin in (West-)Europa weitgehend bergauf, ist die Europäische Union seither vor allem damit beschäftigt, Krisen zu managen, die in immer kürzeren Zeitabständen in der EU aufprallen. Die Erwartungen von 1999, wonach Europa selbstzufrieden auf eine Zukunft in Wohlstand, Frieden und Sicherheit blicken könne, haben sich allesamt nicht erfüllt.
Was Maks Buch zugleich ungemein lesenswert und inhaltlich aussagekräftig macht, ist sein essayistisches Gespür für die richtige Abmischung von Betrachtungen aus der Vogelperspektive und von Vignetten aus dem europäischen Alltag. Auf seinen Reisen durch den Kontinent besucht er immer wieder dieselben Orte und beobachtet, wie das große Ganze individuelle Schicksale (mit-)prägt.
Hoher Norden, tiefer Süden
So wird der Aufstieg Wladimir Putins vom blassen KGB-Offizier zum unumstrittenen Alleinherrscher eines revanchistischen Russlands aus der Perspektive eines Dorfes im hohen Norden Norwegens betrachtet, dessen Einwohner mit neuen Spannungen an der benachbarten Grenze zu Russland hadern. Und die Destruktivität der Finanz- und Schuldenkrise in Griechenland, die beinahe zum Kollaps der Eurozone geführt hatte, entfaltet durch die Beschreibung der Schneise der Verwüstung, die die Krise durch eine kleinstädtische griechische Einkaufsstraße zieht, zusätzliche Wucht.
Mak verweigert sich der simplifizierenden Sicht, wonach alles besser gewesen wäre, hätten bloß die EU/die Nationalstaaten/die Bankiers oder andere Beteiligte anders gehandelt. Der Ausweg aus der Krise könne nur miteinander gelingen, nicht gegeneinander. Insofern ist „Große Erwartungen“nicht bloß eine Anamnese der EU im Jahr 2020, sondern auch ein flammendes Plädoyer für die europäische Integration und die Weiterentwicklung der Union zum Schutz vor Autokraten und Volksverführern.