Neuenfels sperrt Mozart ins Spiegelkabinett
Wiener Staatsoper. „Die Entführung aus dem Serail“kehrt nach zwanzig Jahren ins Repertoire zurück: Regisseur Hans Neuenfels verdoppelt die Sänger durch Schauspieler – und verliert sich in Kommentaren zum Stück.
Wenn die Welt untergeht, dann ziehe ich nach Wien, dort passiert nämlich alles erst Jahrzehnte später“: Dieser populäre Satz wird wahlweise Karl Kraus, Gustav Mahler oder weiteren Personen zugeschrieben – bis hin zu Mark Twain, der sich freilich im Ernstfall angeblich nach Cincinnati verzogen hätte. In Wahrheit soll es sich ausgerechnet um einen Berliner Witz aus den 1830ern handeln, mit Königsberg als Fluchtpunkt: Provinz ist also immer relativ.
Womit wir bei Mozarts „Entführung aus dem Serail“angelangt wären, die nach zwanzig Jahren wieder an der Staatsoper zu erleben ist – in für das Haus neuer Gestalt. Nein, ein Weltuntergang ist sie nicht, Hans Neuenfels’ als legendär gehandelte Inszenierung, die 1998 in Stuttgart Premiere hatte und nun vom alten Meister selbst überarbeitet und mit einem jungen Ensemble für Wien neu einstudiert wurde. Aber dass die Deutung wirklich so „genial“wäre, wie Bogdan Rosˇciˇc´ erklärt hatte, konnte der stellenweise zähe Abend keineswegs nachweisen. Das bedeutete hinterher einen veritablen Streit zwischen Buh- und Bravo-Fraktion angesichts des geduldig sich verneigenden Regisseurs.
Jedem Sänger sein Double
Plattensammler kennen das besonders aus den 1970er-Jahren, etwa von Karl Böhms Dresdner „Entführung“: Für die Dialoge setzte man statt der oft nicht optimal Deutsch sprechenden Opernstars gern Schauspieler ein; die vor dem Mikrofon gewonnene darstellerische Qualität sollte den akustischen Bruch aufwiegen. Neuenfels transferiert dies auf die Bühne, gibt allen singenden Akteuren ein Schauspieldouble. Brechungen, Spiegelungen ziehen sich so durch alle Ebenen: in den Dialogen der Figuren mit sich selbst, im Wechselspiel und Gegensatz von Text und Musik, im bühnenmäßigen Gesang, der sich auf Christian Schmidts Bühne meist in einem Theater auf dem Theater vollzieht, im Aus-der-Rolle-Treten („Herr Kapellmeister, Musik bitte!“), in Seitenhieben auf Deutungstraditionen der „Türken-“und „Aufklärungsoper“, alles von Neuenfels in seiner Textbearbeitung ins Stück hineinreklamiert.
Kurz gesagt: Der Regisseur löst den ganzen Abend über vor allem jene Probleme, die er ohne die Verdopplung der Figuren nie gehabt hätte. Freilich spielt er auch mit ihnen, in einzelnen Details virtuos – doch oft auch mit drögen Witzchen, Betulichkeit oder bleiernem Pathos, woran man wohl aufklärerischen Anspruch erkennen soll. Aber vor lauter mehr oder minder klugen Fußnoten gerät ihm der Haupttext aus dem Blickwinkel – weshalb keineswegs bloß altväterische Justamentprotestierer an seiner Arbeit erhebliche Schwächen erkennen können.
Waren es nicht immer die spannendsten Aufführungen, in denen Konstanze sich einem zumindest teilweise charmanten Werben des Bassa Selim gegenübersah, das sie in ihrer standhaften Liebe zu Belmonte vielleicht wanken ließ? Wenig wird hier davon spürbar, zumal Christian Nickel als Bassa, durch die Nichtverdopplung dieser Sprechrolle noch stärker isoliert, einen berserkerhaft triebgesteuerten Potentaten mimen muss, der sich kaum in Zaum halten kann. Erst im letzten Bild tritt er plötzlich als großmütiger, geläuterter Dandy im Frack auf – nicht etwa, weil er das todesmutig-standhafte Duett von Konstanze und Belmonte gehört hätte, sondern gänzlich unmotiviert, um nach dem Schlusschor (!) auch noch Mörike zu rezitieren: Ja, auch das pure Wort könnte rühren – aber es bleibt ein papierener Regieeinfall. Dass zur „Martern“-Arie ein schlangenumzüngelter Amorknabe Konstanze den Apfel der Versuchung kredenzen will, ist angesichts von Selims Gewaltbereitschaft eine recht hochtrabende Symbolik.
Musikalisch glänzt vor allem Konstanze
Immerhin entpuppt sich die Konstanze der Lisette Opresa als größter musikalischer Gewinn: „Sing!“, fleht ihr Alter Ego (Emanuela von Frankenberg) sie einmal händeringend an. Sie tut es mit einem Sopran, der an farblichen Schattierungen vielleicht nicht überquellen mag – aber ein Schuss Herbheit verleiht der Stimme durch alle Register einheitlichen Charakter, und ihre mozartisch „geläufige Gurgel“beeindruckt ebenso wie die mühelose Höhe, das agile Legato.
Opresa am nächsten kommt Daniel Behle, der anfangs eher die träumerisch-gefühlvollen Belmonte-Seiten hervorzukehren hat, während Christian Natter den Entschlosseneren der beiden gibt – eine Unterscheidung, die sich dann etwas verliert. Behles Tenor betört weniger durch Schmelz und Timbre als durch seinen koloraturkundigen und klugen, differenzierten Vortrag. Nicht nur singt er alle Arien (die sogenannte Baumeister-Arie haben einige der berühmtesten Belmontes der Vergangenheit mit gutem Grund gemieden), sondern der Dirigent Antonello Manacorda hat überhaupt die von Mozart selbst angebrachten (und teils wieder rückgängig gemachten) Striche geöffnet.
Papagena und Papageno
Es dauerte am Premierenabend freilich ein Weilchen, bis sich sein historisch informierter, im Klangbild zunächst etwas karger, forscher Zugang (mit nirgends zwingenden Hammerklavier-Beiträgen) über einige Unsicherheiten hinweg zu alerter Festlichkeit entwickeln konnte. Aus Blonde und Pedrillo macht Neuenfels in einer Szene gar Papagena und Papageno mit wuselndem Nachwuchs nebst personifiziertem Tod: Regula Mühlemann singt quirlig, aber müht sich beim hohen E; Michael Laurenz meistert den heldischen Aplomb des „Frisch zum Kampfe“achtbar. Ein Ausfall aber war zu verzeichnen: Dem Bass Goran Juric´ hat man mit seinem Hausdebüt als sadistischer Haremswächter Osmin nichts Gutes getan. So eklatante Defizite in der Tiefe darf man in dieser zugegeben extrem anspruchsvollen Partie auf Dauer vielleicht in Königsberg oder Cincinnati haben, nicht in Wien: Das wäre sonst schon eine Art Weltuntergang.