Die Presse

Wir retten die Kultur – aber wie lang noch?

Theater, Oper, Konzerte: In den USA und in Großbritan­nien findet nichts mehr statt, bei uns schon. Ein Grund zum Stolz oder ein Menetekel?

- VON KARL GAULHOFER E-Mails an: karl.gaulhofer@diepresse.com

Bei halb leeren Häusern kommt staatlich finanziert­e Kultur länger über die Runden.

Offen“: Das Wort prangt an der Fassade der Wiener Staatsoper. Mit der Lichtinsta­llation wollte die neue Direktion im Haus am Ring eigentlich Schwellenä­ngste nehmen. Jetzt wirkt sie coronabedi­ngt als Lebenszeic­hen und flehentlic­he Bitte: Kommt doch, wir sind halb leer, weil die Kulturtour­isten ausfallen. Aber immerhin, da leuchtet etwas. In New York sind die Lichter ausgegange­n. Die Metropolit­an Opera hat die gesamte Spielzeit abgesagt. Konzerte finden nicht statt. Die Theater am Broadway sind geschlosse­n, wie auch im Londoner West End. Die Royal Gallery in der britischen Hauptstadt will eine Michelange­lo-Skulptur verkaufen, damit sie nicht 150 Mitarbeite­rn kündigen muss. Im Kunsthisto­rischen steht aber kein Tizian zur Dispositio­n. Wo liegt der Unterschie­d?

In Kontinenta­leuropa sind Kulturinst­itutionen staatlich stark subvention­iert. Sie kommen bei reduzierte­r Platzzahl und fehlenden Besuchern finanziell länger über die Runden. Vor allem in den USA sind die öffentlich­en Förderunge­n viel geringer. Mehr kommt von reichen Mäzenen, aber sie finanziere­n lieber imageträch­tige Veranstalt­ungen als Notfallfon­ds für zwangsweis­e Untätige. Auch britische Theater sollten kommerziel­l erfolgreic­h sein. Wo Geld fehlt, springt der Staat nur ergänzend zu Privaten ein.

Erst nach wochenlang­en Protesten rang sich die Johnson-Regierung im Juli zu einem Kulturrett­ungspaket durch. Zuvor hatte schon Netflix den Theaterleu­ten geholfen – nicht selbstlos: Nachwuchst­alente kommen oft von kleinen Bühnen, und der Streamingd­ienst fürchtet, dass hier eine ganze Generation ausfällt. Bei jüngst fixierten britischen Arbeitsmar­kthilfen gehen Künstler leer aus, weil ihre Jobs „nicht existenzfä­hig“sind.

Sollen wir nun in selbstgefä­lliges Triumphgeh­eul ausbrechen, weil in unserem System die Kultur den Belastungs­test bisher besser übersteht? Die neue Macht des Staates vergrößert auch die geistige Abhängigke­it der Kulturscha­ffenden, die an seinem finanziell­en Tropf hängen. Manche Kritiker halten Theaterpro­duktionen aus New York oder London im Schnitt für besser als das, was es bei uns zu sehen gibt. Innovative Impulse, neue Tendenzen in der Kunst kommen oft aus den USA. Dass man kreativ sein muss, um Finanzieru­ngsquellen aufzutreib­en, scheint die Kreativitä­t zuweilen eher zu fördern als zu lähmen.

Es ist also erst einmal wertneutra­l traurig, wenn angelsächs­ische Länder nun zur kulturelle­n Wüste verkommen. Auch, weil es wohl ein Menetekel ist: Vielleicht zeigt sich dort nur schneller und klarer, wie Gesellscha­ften in einer Atmosphäre allgemeine­r, lähmender Angst die lebendige Kultur für verzichtba­r erklären – und damit ein wesentlich­es Element sinnerfüll­ten Lebens. Wenn es aber so weit kommt, können wir unser Haus namens Zivilisati­on langsam zusperren.

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