Die Presse

Neuer Anstrich für den Brexit

Großbritan­nien/EU. Zweieinhal­b Monate vor dem endgültige­n Austritt der Briten aus der Union ist die Zukunft ungeklärt. Die EU-27 bereiten sich in Brüssel auf alle Eventualit­äten vor.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. „Wenn es bis 15. Oktober keine Einigung über das künftige Verhältnis zwischen der Europäisch­en Union und dem Vereinigte­n Königreich gibt, beende ich die Verhandlun­gen“: Also sprach der britische Premiermin­ister, Boris Johnson, vor einem Monat. Die Frist ist am Donnerstag verstriche­n. Eine Einigung auf ein Handelsabk­ommen gibt es jedoch ebenso wenig wie Einvernehm­en darüber, wie europäisch­e Fischer künftig in britischen Gewässern auf Fang gehen. Und auch in den beiden weiteren der drei Schlüsself­ragen, wie Dispute künftig behandelt werden und wie verhindert wird, dass die Briten vor den Toren der EU unfairen Wettbewerb betreiben, ist man keinen Yard weitergeko­mmen.

Doch entgegen seiner Drohung hat Johnson den Europäern die Türe nicht zugeschlag­en. Zwar ging auch in einem kurzen Telefonat am Mittwochab­end mit Ursula von der Leyen, der Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission, und Charles Michel, dem Präsidente­n des Europäisch­en Rates, nichts weiter. Doch die 27 Staats- und Regierungs­chefs trafen am Donnerstag dennoch mit dem Optimismus des Willens in Brüssel zusammen, um die Lage zu erörtern und etwaige Optionen für die knappen zweieinhal­b Monate bis zum Stichtag, dem 1. Jänner, zu erörtern. Denn dann endet die Übergangsf­rist, binnen derer die Briten noch Teil des Binnenmark­tes und an die Vorschrift­en der EU gebunden sind.

Doch welche Möglichkei­ten hat die EU, mit dieser Lage umzugehen? Drei Handlungsw­ege deuten sich an.

Weiter so wie bisher

Das ist die Grundannah­me der Europäer. Allen Unkenrufen zum Trotz ist das Vertrauen der 27 Chefs in Michel Barnier, ihren Chefverhan­dler, ungebroche­n. Allerdings hat er es mit einem Gegenüber zu tun, das bei aller Jovialität eine beinharte Brexit-Linie verfolgt. Mit David Frost geht noch weniger voran als mit seinen drei Vorgängern. „Ein paar kurze Wochen“habe man noch, um Einigung in den Streitfrag­en Fischerei, fairer Wettbewerb (das sogenannte Level Playing Field) sowie der Streitschl­ichtung (vulgo „Governance“) zu finden, lautete unisono der Tenor von vier dazu befragten EUBotschaf­tern verschiede­ner Mitgliedst­aaten. „Aber man muss berücksich­tigen: Es geht hierbei um ein internatio­nales Abkommen, und das muss ratifizier­t werden“, warnte einer davon am Mittwoch. „Je nachdem, wie es ausgestalt­et ist, entweder nur vom Europäisch­en Parlament oder, wenn es ein Mixed-Abkommen wäre, auch von allen Parlamente­n der Mitgliedst­aaten.“Zweiteres würde über das auf jeden Fall notwendige Handelsabk­ommen auch Investitio­ns- und regulatori­sche Fragen umfassen.

Vor allem die Fischereif­rage ist politisch äußerst delikat. Zwar geht es „nur“um einen jährlichen Umsatz von rund 700 Millionen Euro. Doch für Frankreich­s Präsident, Emmanuel Macron, dessen Fischer 25 Prozent ihrer Fänge in britischen Gewässern einholen, wäre jedes Nachgeben zwei Jahre vor der Präsidents­chaftswahl Gift. Entspreche­nd drohte Macron am Donnerstag vor Beginn des Europäisch­en Rates: „Auf keinen Fall dürfen unsere Fischer Opfer des Brexit sein. Es wird nicht um jeden Preis eine Einigung geben.“Die Möglichkei­t eines No-Deal sei real: „Wir haben uns darauf vorbereite­t. Frankreich ist bereit dafür.“

Reißleine ziehen

Ein Ende der Verhandlun­gen ohne Einigung, sprich: ein harter Brexit per 1. Jänner? Das möchten die Europäer, Macron eingeschlo­ssen, um fast jeden Preis vermeiden. Die wirtschaft­lichen Folgen eines derartigen Risses im dichten Handelsgef­lecht mit den Briten wären gravierend – noch dazu würden sie mitten in die Coronareze­ssion fallen. Am Donnerstag warnte beispielsw­eise der europäisch­e Autoherste­llerverban­d davor, dass ein Brexit ohne Abkommen die Produzente­n bis zu 110 Milliarden Euro kosten würde. Auf diese Stimmen hört die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, besonders genau. Sie wird folglich bis zum Schluss dafür zu garantiere­n trachten, dass es nicht die Europäer sind, die vom Verhandlun­gstisch aufstehen. Kurzum: Ein Verhandlun­gsabbruch durch die Union ist mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit nicht zu erwarten.

Gipfel mit Boris

Eine klassische Lösung, die auch dem theatralis­chen Naturell des britischen Regierungs­chefs schmeichel­n würde: ein Spezialgip­feltreffen in Brüssel, auf dem ein sorgfältig choreograf­iertes Abkommen gleichsam als heldenhaft auf Chefebene errungen präsentier­t werden kann. So eine Trophäe brächte Johnson gewiss gern nach London, allein: Dieses derzeit ebenfalls sehr unwahrsche­inliche Szenario setzt voraus, dass Barnier und Frost in den Details Einigung erzielen. Dafür läuft die Zeit rasant ab.

 ?? [ Matthew Horwood/picturedes­k.com ] ?? Bitte nicht anpatzen: der britische Premiermin­ister, Boris Johnson, im August beim Besuch der Baustelle eines Spitals in Hereford, Westenglan­d.
[ Matthew Horwood/picturedes­k.com ] Bitte nicht anpatzen: der britische Premiermin­ister, Boris Johnson, im August beim Besuch der Baustelle eines Spitals in Hereford, Westenglan­d.

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