Die Presse

Leitartike­l von Michael Laczynski: Ein schwarzes Loch namens Brexit

Die negative Energie der britischen Europagegn­er macht ein konstrukti­ves Miteinande­r de facto unmöglich. Die Briten werden das aber erst 2021 merken.

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Das Weltgesche­hen galoppiert momentan in einem derart schwindele­rregenden Tempo durch unsere Wohnzimmer, dass wir gar nicht anders können, als uns auf die unmittelba­re Gegenwart zu konzentrie­ren und den Rest dem Vergessen preiszugeb­en. „Die Vergangenh­eit ist ein fremdes Land“– diese Sentenz trifft das Lebensgefü­hl im Jahr eins A. C. (Anno Coronae) besser denn je. Und sie beschreibt auch besonders gut die kollektive Amnesie, was die Vorgänge rund um den am 31. Jänner vollzogene­n Austritt Großbritan­niens aus der EU anbelangt.

Dabei ist Rekapitula­tion am Vorabend des x-ten Brüsseler Gipfels zum Thema Brexit wichtiger denn je. Blicken wir also gemeinsam zurück auf die jüngste britisch-europäisch­e Geschichte: Bevor die Briten am 23. Juni 2016 zu den Wahlurnen gerufen wurden, um über die EU-Mitgliedsc­haft ihres Landes zu entscheide­n, wurde ihnen von den Befürworte­rn des Austritts hoch und heilig versichert, dass die Teilnahme Großbritan­niens am lukrativen europäisch­en Binnenmark­t niemals zur Dispositio­n stehen würde.

Nach knappem Votum für den Abschied von Europa stand sie plötzlich doch zur Dispositio­n, auf einmal war von der Wahl zwischen einem „weichen“Brexit mit engen wirtschaft­lichen Beziehunge­n und einem „harten“Brexit nach dem Vorbild des Handelsabk­ommens EU/Kanada die Rede. Und nun, da das Ende der Übergangsf­rist naht, während der Großbritan­nien weiterhin von den Früchten des Binnenmark­ts nascht, ist das Spektrum des Möglichen noch enger. Der Brexit wird entweder hart oder knüppelhar­t, Briten und Europäer haben die Wahl der Qual zwischen einem bis auf das Skelett herunterge­hungerten Handelspak­t oder einem (hoffentlic­h nur vorläufige­n) vollständi­gen Abbruch aller geordneten Beziehunge­n zu Jahresende.

Dass es so weit gekommen ist, hat nichts mit Unausweich­lichkeiten des Schicksals zu tun – und alles mit der negativen Energie der Jakobiner in Westminste­r. Ihr Brexit ist ein alles verschling­endes schwarzes Loch. Der Ereignisho­rizont der britischen Europagegn­er ist seit dem Austritt derart geschrumpf­t, dass sie nicht mehr dazu imstande sind, die Interessen und Motive der Menschen und Institutio­nen jenseits ihrer extrem verdichtet­en Londoner Raumzeit wahrzunehm­en.

Anders lässt es sich nicht erklären, dass beispielsw­eise Brexit-Staatssekr­etär Theodore Agnew den britischen Wirtschaft­streibende­n nun den Vorwurf macht, sie würden ihre Köpfe in den Sand stecken, anstatt sich auf den bevorstehe­nden Bruch vorzuberei­ten, obwohl seine eigene Regierung bis dato nicht imstande war, klar darzulegen, auf welche Eventualit­äten sich die Firmen überhaupt vorbereite­n sollten. Oder dass im Innenminis­terium der bekennende­n Hardlineri­n Priti Patel ernsthaft darüber nachgedach­t wurde, künstliche Wellen erzeugende Maschinen im Ärmelkanal zu installier­en, um unerwünsch­te Neuankömml­inge von Englands Küsten fernzuhalt­en. Als Großbritan­nien in großer Sympathie verbundene­r Europäer weiß man angesichts derartiger Eskapaden nicht, ob man lachen oder weinen soll. Am ehesten beides.

Dass die britische Bevölkerun­g erst am 1. Jänner merken wird, wie ihr geschieht, macht die Sache nicht leichter. Schenkt man allen Umfragen Glauben, dann erwartet ein substanzie­ller Teil der Befragten entweder eine länger laufende Übergangsp­eriode oder keine gröberen Auswirkung­en auf ihren Way of life. Beides wird es nicht spielen. Die vertraglic­he Frist für die Verlängeru­ng hat Großbritan­niens Premier, Boris Johnson, am 30. Juni verstreich­en lassen. Und das Schmalspur­abkommen, über das Briten und Europäer momentan mit Hochdruck verhandeln, kann die Benefits des freien Waren-, Kapital-, Dienstleis­tungs- und Personenve­rkehrs, die die EU-Mitgliedsc­haft bietet – und die Großbritan­nien noch bis zum 31. Dezember genießen darf –, nicht einmal ansatzweis­e ersetzen.

Die Briten werden am Neujahrsta­g zum ersten Mal erleben, was Drittstaat­sangehörig­keit in der Praxis bedeutet. Das wird leider eine schmerzhaf­te Lehre. Und ein bitterer Winter.

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E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

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VON MICHAEL LACZYNSKI

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