Politologe Menon: „Regierung Johnson wünscht sich Trumps Wiederwahl“
Interview. Für die Brexit-Vereinbarung wird die Zeit nun wirklich knapp, warnt Politikwissenschaftler Anand Menon.
Die Presse: Sowohl die EU als auch Großbritannien betonen, sie wollen einen Deal. Warum ist dennoch von einer Einigung weit und breit nichts zu sehen?
Anand Menon: Beide wollen einen Deal, aber nicht um jeden Preis – und beide haben prinzipielle Gründe, warum sie nicht zu viele Zugeständnisse machen können. Aufseiten der EU herrscht die Einschätzung vor, dass (der britische Premierminister, Anm.) Boris Johnson unbedingt eine Vereinbarung will. Daher geht man davon aus, dass er nachgeben wird, und das wird man in den kommenden Tagen testen. Letztlich werden sich aber beide Seiten bewegen müssen.
Wie viel ist Theater für das jeweilige Heimpublikum, und wie viel sind echte Differenzen? Die Frage ist, welche der roten Linien echte Prinzipienfragen und welche symbolisch sind, um Flagge zu zeigen. Wir wissen beispielsweise nicht, wie viel etwa von der britischen Position zu staatlichen Subventionen verhandelbar ist. Wollen wir nicht den EU-Bestimmungen unterworfen sein, weil die Regierung plant, Unsummen in die Wirtschaft zu pumpen, oder weil sie es aus Prinzip ablehnt, EU-Regeln anzuerkennen? Das ist unklar, weil wir eine Regierung haben, von der wir nicht wissen, was sie will, was sie tut und was ihre Prioritäten sind. Alles, was wir haben, sind ein paar vage Slogans.
Seit Verhandlungsbeginn scheint es sich bei den gleichen Themen Subventionen, Fischerei und Streitschlichtung zu spießen. Warum kommt man nicht weiter? Einerseits handelt es sich um heikle Fragen. Aber wichtiger: Man hat ihnen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Das illustriert die dysfunktionale Form, in der wir Politik betreiben: Erst wenn die Uhr tickt und man vor einer Alles-oder-nichts-Situation steht, konzentrieren sich die politischen Führer auf die wichtigen Fragen.
Das heißt, dass letztlich nur die Politiker eine Entscheidung herbeiführen können? Es liegt in den Händen jener Länder, die beim Fischfang mitreden, es liegt in der Hand des Europäischen Rats und es liegt in der Hand von Boris Johnson, der entscheiden muss, wie viel Risiko er eingehen will. Für einen Deal wird er Leute seiner eigenen Seite verärgern müssen.
Indes verstreicht eine Frist nach der anderen. Werden diese Verhandlungen zu einer unendlichen Geschichte?
Sie werden in dem Sinn nie enden, dass wir auch in Zukunft Verhandlungen mit der EU in vielen Bereichen haben werden. Im Brüsseler Ratsgebäude kann man schon jetzt für immer einen Raum für eine Delegation aus Großbritannien reservieren. Um jetzt noch einen Post-Brexit-Deal zu vereinbaren, wird es allein aus prozeduralen Gründen tatsächlich sehr knapp. Wenn bis Monatsende nicht erste Vertragsentwürfe auf dem Tisch liegen, stecken wir wirklich in der Klemme.
Und es gibt tatsächlich noch nicht einmal Entwürfe eines Abkommens?
Es gibt zahlreiche Bereiche, in denen wir wissen, wohin die Reise geht. Aber nur wenig ist schriftlich fixiert. Das Prinzip ist: Nichts ist vereinbart, bevor nicht alles vereinbart ist.
Ist Großbritannien auf einen No-Deal vorbereitet? Der zuständige Minister, Michael Gove, präsentierte kürzlich ein Horrorszenario von 7000 Lkw, die in Südengland auf die Abfertigung warten.
Wir sind jetzt ein bisschen vorbereitet. Am gravierendsten ist ohne Zweifel, dass die britischen Betriebe der Brexit-Vorbereitung sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Einerseits, weil sie mit Corona alle Hände voll zu tun haben, andererseits, weil sie die Appelle nicht ernst nehmen. Es hat in den letzten Jahren so viele Warnungen gegeben, das erinnert an die Fabel vom Schäfer und dem Wolf. Vergessen wir nicht: Am Ende wird der Schäfer vom Wolf gefressen.
Aus diplomatischen Kreisen heißt es, dass die britische Regierung mit ihrem umstrittenen Binnenmarktgesetz viele in der EU gegen sich aufgebracht habe. Ist Londons Position geschwächt?
Das sehe ich nicht so. Die EU hatte schon vor diesem Gesetz kein Vertrauen zu Johnson. Sicher war Brüssel über das Vorgehen schockiert und verärgert. Aber die Vorstellung, dass der EU erst jetzt die Augen aufgegangen sind, ist einfältig. Das ist eine britische Regierung, die sagt, wir haben etwas vereinbart, aber macht euch nichts draus, wir haben keine Absicht, es einzuhandeln. Jeder weiß das, und daher misst niemand Vereinbarungen mit dieser Regierung großen Wert bei. Ich bin mir sicher, die EU hat das nicht getan.
Dennoch will Brüssel ein Abkommen mit der Regierung Johnson?
Man hätte sicher lieber einen Deal als keinen Deal. Dafür gibt es für beide eine Reihe von Gründen: um die wirtschaftlichen Folgen zu mildern, um einen zivilisierten Umgang mit unseren Nachbarn sicherzustellen, insbesondere in einer Zeit wachsender internationaler Instabilität, und schließlich für Johnson, um die Kritik der Labour-Opposition zum Schweigen zu bringen.
Welche Auswirkungen hätte ein Machtwechsel in den USA für Großbritannien? Ohne es laut zu sagen, würde sich die Regierung Johnson eine Wiederwahl von Donald Trump wünschen. Joe Biden wird als schwieriger eingeschätzt. Er ist ein Anhänger des Multilateralismus, er steht der EU viel weniger kritisch gegenüber und er würde Handelsverhandlungen mit der EU wohl Vorrang gegenüber einem Deal mit Großbritannien geben. Ein US-Präsident Biden würde unser Leben schwerer machen.
Es war auffällig, dass Johnson in seiner Parteitagsrede in der Vorwoche den Brexit praktisch nicht mehr erwähnte. Will er das Thema endgültig abhaken?
Sicherlich. Die Verhandlungen langweilen ihn. Er will voranschreiten. Ob ihm das gelingt, ist eine andere Frage, denn wir werden mit den Folgen leben müssen.
Ungeachtet, wie die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien ausgehen: Die Coronakrise ist außer Kontrolle, die Umfragewerte der Regierung sind schlecht und die Kritik an Boris Johnson wird immer lauter: Wird die konservative Partei nach Inkrafttreten des Brexit im kommenden Jahr den Premier stürzen? Der erste wirkliche Test für Johnson kommt am 6. Mai 2021, wenn Lokalwahlen in weiten Teilen Englands und Parlamentswahlen in Schottland stattfinden. Wenn die Tories sehr schlecht abschneiden, werden die Sorgenfalten in der Partei noch tiefer werden.
Kommt es zu einer Vereinbarung EU/ Großbritannien, ja oder nein?
Beides scheint momentan möglich, aber ich bin eher geneigt, an einen Deal zu glauben.