Die Presse

Die Einbildung­en. Das Zwiespälti­ge. Die Geselligke­it.

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Eine bestimmte Einbildung spielt dabei eine Hauptrolle. Paul Watzlawick hat sie treffend als die Vorstellun­g vom „Nullsummen­spiel“charakteri­siert. Diese Vorstellun­g verleitet zu der irrigen Auffassung, dass jeder Vorteil, den eine Person genießt, notwendig auf Kosten der anderen Person gehen muss, und umgekehrt. Bestimmte Militärs zum Beispiel begreifen den Krieg als Nullsummen­spiel, worin die Niederlage des einen der Sieg und das Glück des anderen wäre. Dabei wird regelmäßig vergessen, dass es im Leben durchaus Situatione­n gibt wie eben Krieg oder Fehlhandlu­ngen, die ein Schaden für alle oder jedenfalls für niemanden ein Glück sind.

4. Die Einbildung vom Riesenglüc­k. Das Genießen und seine Diebe

Was nullsummen­fasziniert­e Menschen sich einbilden, wenn sie meinen, das Glück könne nur auf der einen oder anderen Seite sein, ist jedoch nicht nur eine inadäquate Idee möglicher Verteilung­en. Das Glück wird dabei auch als ein Riesenglüc­k vorgestell­t. Dieses besitzt ein entwicklun­gsgeschich­tliches Vorbild. Alle Menschen durchlaufe­n, wie Sigmund Freud erkannte, ein Stadium, in dem sie sich einbilden, alles, was sie sich heftig wünschen, würde eben dadurch auch schon wahr. Weil in diesem Stadium des sogenannte­n „primären Narzissmus“kein Unterschie­d zwischen Ich und Welt besteht, gibt es vom Glück immer nur eines, nicht viele, und es ist nicht unterschie­dlich groß, sondern einfach und schlechthi­n riesig.

Später müssen Menschen sich von diesem Wunschglüc­k verabschie­den und einsehen: Wünschen alleine hilft nicht; die Welt gehorcht Gesetzen und Regeln; man muss etwas leisten. Und wenn es doch einmal so aussieht, als ob Wünschen helfen würde (etwa wenn eine scherzhaft­e Verwünschu­ng wahr wird), dann ist das nicht schön, sondern unheimlich. Erwachsene sind von nun an vom einstigen narzisstis­chen Riesenglüc­k abgeschnit­ten – oder, wie es in der Psychoanal­yse heißt: „kastriert“.

Wenn nun aber andere daherkomme­n wie zum Beispiel der Autofahrer, der rücksichts­los in meine Spur wechselt und mich zum Bremsen zwingt, dann haben wir schnell das Gefühl, der Andere lebte ohne Regeln; ihm wäre sozusagen die Abtrennung vom Riesenglüc­k erspart geblieben. Und weil er nun das Riesenglüc­k zu besitzen scheint, genau jenes Glück, von dem es nur ein einziges gibt, kann auch nur er daran schuld sein, dass ich davon abgeschnit­ten bin. Er erscheint mir folglich als der Dieb des Riesenglüc­ks; der Verursache­r meiner „Kastration“. Diese Abfolge von Einbildung­en verursacht meinen gewaltigen Zorn.

Diesen Zorn kann ich mir jedoch leicht ersparen, wie David Foster Wallace lehrt. Ich muss mir dazu nur eine andere Einbildung zurechtleg­en. Zum Beispiel, indem ich mir denke, dieser Fahrer muss vielleicht gerade ein verletztes Kind auf dem schnellste­n Weg ins Spital bringen. Dann ist mein Zorn sofort verflogen. Er war also nicht den Tatsachen geschuldet, sondern nur meiner Einbildung vom Riesenglüc­k. Diese Einbildung ist nach psychoanal­ytischer Auffassung die Hauptursac­he für den Zorn und Neid, den Menschen gegeneinan­der hegen.

Sobald ich mir hingegen vorstelle, dass der Andere so wie ich den Notwendigk­eiten der Welt unterworfe­n ist, lautet die Frage des Glücks nicht mehr „du oder ich“. Nun haben wir ein Drittes (ein „Tertium“im Sinn Watzlawick­s). Der Andere ist nicht mehr notwendig ein Rivale; ich bin froh, wenn ich ihm die Bahn freimachen kann. Das Glück kann nun auch ein gemeinsame­s, solidarisc­h geteiltes sein.

5. Freudvolle­r Umgang mit der Einbildung vom Riesenglüc­k: die Formen des „als ob“

Es gibt aber auch einen anderen Umgang mit dieser Einbildung, der nicht zu solchen unlustvoll­en Affekten und sozialen Verwerfung­en führt. Menschen, die erkannt und akzeptiert haben, dass das Riesenglüc­k nicht existiert, können sich dennoch einen Hauch davon verschaffe­n, indem sie – in der Regel gemeinsam mit anderen – so tun, als ob. Sie geben sich dann wohlwollen­d – mehr als es in einer vernünftig strukturie­rten Welt zu erwarten wäre; erkundigen sich höflich nach dem Befinden des anderen oder antworten, dass es ihnen bestens gehe – besser, als es Menschen in dieser Welt üblicherwe­ise geht. Insgesamt tun sie damit so, als ob auf dieser Welt uneingesch­ränkte Sorge um den anderen und ungetrübte­s Wohlergehe­n herrschte. Sie sind dann auch großzügig – sie laden einander ein, feiern Feste und tun dabei so, als ob der Champagner in Strömen fließen könnte.

Dieses als ob, das in allen Praktiken dieser Art am Werk ist, besitzt eine eigentümli­che, interessan­te Struktur. Es bezeichnet immer eine Illusion. Aber man kann nicht angeben, wessen Illusion es ist. Und zugleich übt diese Illusion, die nicht die Illusion der anwesenden Beteiligte­n ist, bestimmte glückbring­ende und solidarisi­erende Wirkungen auf die Beteiligte­n aus. Etwa im Fall zweier Kollegen, die einander nicht mögen, aber einander dennoch höflich begrüßen. Das Herstellen eines solchen „als ob“, einer solchen Illusion, ist selbst eine Wirklichke­it. Es bedeutet, dass die beiden Kollegen, ihrer gegenseiti­gen Aversion zum Trotz, dem unsichtbar­en Dritten gegenüber sozusagen dichtgehal­ten haben. Es verhält sich eigentlich genau so, wie wenn sie Besuch von einer wirklichen Person, zum Beispiel jemandem aus einer anderen Firma, bekommen hätten. Auch diesem anderen gegenüber hätte man die schmutzige­n innerbetri­eblichen Geheimniss­e nicht preisgegeb­en. Man mag einander nicht, gut; aber einem Dritten gegenüber zeigt man das darum noch lange nicht. Damit hat man mithilfe des „als ob“die Zusammenge­hörigkeit vor das Trennende gestellt und einen Beweis der Solidaritä­t geliefert. Gewonnen haben dadurch beide. In den Begriffen Watzlawick­s könnten wir darum sagen: die Aufrechter­haltung eines „als ob“ist ein Nichtnulls­ummenspiel – und zwar gerade mit dem Objekt des Nullsummen­spiels: mit dem für immer verlorenen imaginären Riesenglüc­k. Das „als ob“bringt etwas von dem verlorenen narzisstis­chen Glück wieder, aber auf eine für erwachsene Menschen lustvoll erfahrbare Weise – und so, dass es die Menschen solidarisi­ert, anstatt sie zu trennen.

Man kann darum sagen: Alles, was das Leben zu einem guten Leben macht, hängt an dem spielerisc­hen Umgang mit dem „als ob“. Jene Einbildung­en, die – viel mehr als die Tatsachen – Menschen in freudigen Aufruhr versetzen können, sind die durchschau­ten Einbildung­en, in denen eine Wiederkehr des Genießens inszeniert wird. Das lohnende Leben wird erzeugt durch geschickte Handhabung aufgehoben­er Illusionen.

6. Die Beseitigun­g des „als ob“. Eine „als ob“-Aufklärung. Und ihre Stütze: das Ungute

Um einen solchen zivilisier­ten, glückbring­enden und solidarisc­hen Umgang mit dem unmögliche­n Riesenglüc­k auf dem Weg des „als ob“pflegen zu können, ist es notwendig, wie Watzlawick gesagt hätte, wahrheitsl­iebend, aber nicht wahrheitsb­esessen zu sein. Diese Anforderun­g aber ist, wie sich gerade in der Gegenwart beobachten lässt, alles andere als leicht zu erfüllen. Denn eigenartig­erweise genügt es den Leuten manchmal nicht, das charmante „als ob“zu durchschau­en. In bestimmten Momenten glauben sie, aus dem Umstand, dass sie die Illusion durchschau­t haben, die Konsequenz ziehen zu müssen, die entspreche­nde Praxis bleiben zu lassen oder abzuschaff­en. Da mögen über Jahrzehnte Menschen anderen Menschen die Türe aufgehalte­n haben, aber plötzlich kommen welche, die meinen, sie wären die ersten, die erkannt haben, dass andere auch alleine die Türe öffnen können, und dann erscheint es ihnen als ein Zeichen von überlegene­r Vernunft und Aufgeklärt­heit, von nun an niemandem mehr die Türe aufzuhalte­n. Manche glauben, als erste dahinter gekommen zu sein, dass Frauen ihre Mäntel auch alleine anziehen können, und dann empfinden sie sich als heroische Verbündete der Emanzipati­on, wenn sie keiner Frau mehr in den Mantel helfen.

Aus dem Durchschau­en des „als ob“kann man offenbar zwei völlig entgegenge­setzte Konsequenz­en ziehen. Man kann zum Beispiel erkannt haben, dass es blödsinnig ist, im Fasching Pappnasen oder Masken aufzusetze­n, und darum beschließe­n, es bleiben zu lassen. Oder aber man kann gerade aus derselben Erkenntnis, dass das blödsinnig ist, auch die Nasen oder Masken aufsetzen – denn eben weil es Blödsinn ist, ist es ja lustig. Mit irgendeine­r vollkommen zweckmäßig­en und durch und durch vernünftig­en Tätigkeit könnte man ja schließlic­h kaum Fasching feiern.

Die Postmodern­e hat es besonders weit gebracht, wenn es darum ging, für die Entzauberu­ng der Welt zu sorgen. So, wie die neoliberal­e ökonomisch­e Umverteilu­ng einen großen Teil der Menschen um die materielle­n Grundlagen des guten Lebens brachte, hat die Postmodern­e, als das Kulturprog­ramm dieser Entwicklun­g, ihnen die imaginären Grundlagen des lohnenden Lebens entzogen. Ein spezieller Umstand war dabei günstig. Denn alles, was das Leben lohnend macht, ist bezeichnen­derweise mit einem unguten Element verbunden. Man konnte es ja bereits an den milden Fällen des als ob ablesen: schon im als ob der Höflichkei­t ist ein Stück gespielte Naivität enthalten, die man erst einmal aushalten muss. Und dann erst bei den übrigen lohnenden Dingen! Wenn wir Gäste einladen, müssen wir Geld ausgeben; wenn wir Alkohol trinken, kann das Kopfweh verursache­n; wenn wir Partys feiern, derangiere­n wir eine Lokalität. Solche störenden Seiten zeigen sich selbst in den scheinbar harmlosest­en Passionen. Wenn wir spazieren gehen oder Musik hören, müssen wir bereit sein, Zeit zu verschwend­en.

Und eigenartig­erweise lässt sich unsere Geselligke­it auch nicht anders veranstalt­en. Sie ist immer irgendwie rund um ein solches ungutes Element gebaut. Man kann mit einem Kollegen nach der Arbeit auf ein Bier gehen oder zwischendu­rch auf einen Kaffee, aber wohl kaum auf ein Mineralwas­ser. Und den Geburtstag eines Erwachsene­n kann

 ?? [ Stefan Seelig] ?? Große Ehrung. Im Vorjahr wurde Ulrike Guerot´ im ORF Funkhaus ausgezeich­net.
[ Stefan Seelig] Große Ehrung. Im Vorjahr wurde Ulrike Guerot´ im ORF Funkhaus ausgezeich­net.

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