Die Angst vor neuer Armut
Das Gespenst der Massenarbeitslosigkeit geht wieder um in Großbritannien. Die Zahl der Jobverluste steigt dramatisch. Aber das ist erst der Anfang.
Zwei Zahlen halten die Briten in Atem: Parallel zur täglich steigenden Anzahl der Corona-Neuinfizierten wird auch die Gruppe der Arbeitslosen immer größer. „Wir stehen vor dem Abgrund“, sagte Gewerkschaftsführerin Frances O´Grady, nachdem die Statistikbehörde ONS diese Woche einen Rekordanstieg der Arbeitslosigkeit gemeldet hatte. In den Monaten Juni bis August verloren 138.000 Briten ihren Job, die höchste Quartalszahl seit der Finanzkrise 2008/09.
Damit erreichte die Arbeitslosigkeit 4,5 Prozent oder 1,52 Millionen Menschen. Am stärksten betroffen waren junge Arbeitskräfte: Rund 60 Prozent bzw. 300.000 der seit März verloren gegangenen 500.000 Stellen trafen Beschäftigte zwischen 16 und 24 Jahren. Zugleich stieg die Zahl der Bezieher von Sozialhilfe auf einen neuen Rekordwert von 2,7 Millionen Menschen.
Die stetig steigende Arbeitslosigkeit – zu Jahresbeginn betrug sie 3,9 Prozent, danach 4,1 Prozent – bereitet den Verantwortlichen umso mehr Sorge, als sie bereits vor Auslaufen des bisherigen Kurzarbeitsmodels der Regierung auftritt. Mehr als drei Millionen Briten bekommen noch bis Ende Oktober unter diesem Schema 80 Prozent ihres bisherigen Durchschnittsgehalts. „Ohne diesen Schutz hätten wir einen wesentlich höheren Anstieg der Arbeitslosigkeit gesehen“, schreibt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) in ihrem jüngsten Länderbericht und lobt: „Das Schema war extrem wirksam und wichtig.“
Aber auch teuer: 47 Milliarden Pfund hat die Regierung seit März in Maßnahmen zum Schutz von 9,2 Millionen Jobs gesteckt. Das sieht man nicht länger als finanzierbar an. „Wir stehen vor harten Entscheidungen“, warnt Schatzkanzler Rishi Sunak. „Mittelfristig müssen wir unseren Haushalt wieder unter Kontrolle bringen.“Daher ist ab November Schluss mit der staatlichen Großzügigkeit: Ab dann sollen nicht mehr alle Jobs, sondern nur mehr wirtschaftlich gerechtfertigte unterstützt werden, zudem sollen betroffene Arbeitnehmer nicht mehr 80 Prozent, sondern nur mehr zwei Drittel des Durchschnittsgehalts bekommen.
Arbeitgeber müssen mehr zahlen
Die wahrscheinlich wichtigste Änderung aber ist: Unter dem neuen Schema zahlt der Staat künftig weniger, der Arbeitgeber aber mehr. Das bedeutet, dass es ab November für Arbeitgeber billiger sein wird, sich von Arbeitskräften zu trennen, als sie weiter zu beschäftigen. In der Folge erwartet man in den kommenden Monaten einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Prognosen reichen von 7,5 Prozent, wie die Bank of England voraussagt, bis zu 13 Prozent, wie vom regierungseigenen Office for Budget Responsibility in einem „worst case scenario“befürchtet wird.
Das wären 4,5 Millionen Arbeitslose, mehr als der historische Höchststand von 3,92 Millionen im Dezember 1982 unter der Regierung von Premierministerin Margaret Thatcher. Es war eine Zeit tiefer Kontroversen und eines gesellschaftlichen Zerfalls, an denen Großbritannien bis heute trägt. Nun warnt sogar Bank of England-Gouverneur Andrew Bailey, ein ausgewiesener Konservativer, vor langfristigen Narben der Coronakrise: „Mehr und mehr Betriebe und Arbeitgeber können nicht überleben. Und zudem sehen wir die Nachfrage für bestimmte Produkte und Dienstleistungen verschwinden.“Als Resultat drohe Massenarbeitslosigkeit.
Damit öffnet sich ein Teufelskreis. Eine verarmte Gesellschaft kann den Konsum nicht mehr aufrechterhalten, der mit 63,7
Prozent des BIPs der Motor der Konjunktur war. Millionen droht der Absturz in die Armut. Die Decke ist schon jetzt für viele dünn: Der 22-jährige Fußballmillionär Marcus Rashford machte den Briten bewusst, dass 1,5 Millionen Kinder auf Gratisschulmahlzeiten angewiesen sind. Nach Angaben der Wohlfahrtsgruppe Centrepoint droht zwei Millionen Menschen bis zu 24 Jahren in den nächsten Jahren die Obdachlosigkeit, da sie von Entlassungen als Erste betroffen sind. Zwei Drittel der unter 24-Jährigen würden „ohne finanzielle Unterstützung nicht über die Runden kommen“.