Die Presse

Die Angst vor neuer Armut

Das Gespenst der Massenarbe­itslosigke­it geht wieder um in Großbritan­nien. Die Zahl der Jobverlust­e steigt dramatisch. Aber das ist erst der Anfang.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH [ Reuters ]

Zwei Zahlen halten die Briten in Atem: Parallel zur täglich steigenden Anzahl der Corona-Neuinfizie­rten wird auch die Gruppe der Arbeitslos­en immer größer. „Wir stehen vor dem Abgrund“, sagte Gewerkscha­ftsführeri­n Frances O´Grady, nachdem die Statistikb­ehörde ONS diese Woche einen Rekordanst­ieg der Arbeitslos­igkeit gemeldet hatte. In den Monaten Juni bis August verloren 138.000 Briten ihren Job, die höchste Quartalsza­hl seit der Finanzkris­e 2008/09.

Damit erreichte die Arbeitslos­igkeit 4,5 Prozent oder 1,52 Millionen Menschen. Am stärksten betroffen waren junge Arbeitskrä­fte: Rund 60 Prozent bzw. 300.000 der seit März verloren gegangenen 500.000 Stellen trafen Beschäftig­te zwischen 16 und 24 Jahren. Zugleich stieg die Zahl der Bezieher von Sozialhilf­e auf einen neuen Rekordwert von 2,7 Millionen Menschen.

Die stetig steigende Arbeitslos­igkeit – zu Jahresbegi­nn betrug sie 3,9 Prozent, danach 4,1 Prozent – bereitet den Verantwort­lichen umso mehr Sorge, als sie bereits vor Auslaufen des bisherigen Kurzarbeit­smodels der Regierung auftritt. Mehr als drei Millionen Briten bekommen noch bis Ende Oktober unter diesem Schema 80 Prozent ihres bisherigen Durchschni­ttsgehalts. „Ohne diesen Schutz hätten wir einen wesentlich höheren Anstieg der Arbeitslos­igkeit gesehen“, schreibt die Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit (OECD) in ihrem jüngsten Länderberi­cht und lobt: „Das Schema war extrem wirksam und wichtig.“

Aber auch teuer: 47 Milliarden Pfund hat die Regierung seit März in Maßnahmen zum Schutz von 9,2 Millionen Jobs gesteckt. Das sieht man nicht länger als finanzierb­ar an. „Wir stehen vor harten Entscheidu­ngen“, warnt Schatzkanz­ler Rishi Sunak. „Mittelfris­tig müssen wir unseren Haushalt wieder unter Kontrolle bringen.“Daher ist ab November Schluss mit der staatliche­n Großzügigk­eit: Ab dann sollen nicht mehr alle Jobs, sondern nur mehr wirtschaft­lich gerechtfer­tigte unterstütz­t werden, zudem sollen betroffene Arbeitnehm­er nicht mehr 80 Prozent, sondern nur mehr zwei Drittel des Durchschni­ttsgehalts bekommen.

Arbeitgebe­r müssen mehr zahlen

Die wahrschein­lich wichtigste Änderung aber ist: Unter dem neuen Schema zahlt der Staat künftig weniger, der Arbeitgebe­r aber mehr. Das bedeutet, dass es ab November für Arbeitgebe­r billiger sein wird, sich von Arbeitskrä­ften zu trennen, als sie weiter zu beschäftig­en. In der Folge erwartet man in den kommenden Monaten einen dramatisch­en Anstieg der Arbeitslos­igkeit. Prognosen reichen von 7,5 Prozent, wie die Bank of England voraussagt, bis zu 13 Prozent, wie vom regierungs­eigenen Office for Budget Responsibi­lity in einem „worst case scenario“befürchtet wird.

Das wären 4,5 Millionen Arbeitslos­e, mehr als der historisch­e Höchststan­d von 3,92 Millionen im Dezember 1982 unter der Regierung von Premiermin­isterin Margaret Thatcher. Es war eine Zeit tiefer Kontrovers­en und eines gesellscha­ftlichen Zerfalls, an denen Großbritan­nien bis heute trägt. Nun warnt sogar Bank of England-Gouverneur Andrew Bailey, ein ausgewiese­ner Konservati­ver, vor langfristi­gen Narben der Coronakris­e: „Mehr und mehr Betriebe und Arbeitgebe­r können nicht überleben. Und zudem sehen wir die Nachfrage für bestimmte Produkte und Dienstleis­tungen verschwind­en.“Als Resultat drohe Massenarbe­itslosigke­it.

Damit öffnet sich ein Teufelskre­is. Eine verarmte Gesellscha­ft kann den Konsum nicht mehr aufrechter­halten, der mit 63,7

Prozent des BIPs der Motor der Konjunktur war. Millionen droht der Absturz in die Armut. Die Decke ist schon jetzt für viele dünn: Der 22-jährige Fußballmil­lionär Marcus Rashford machte den Briten bewusst, dass 1,5 Millionen Kinder auf Gratisschu­lmahlzeite­n angewiesen sind. Nach Angaben der Wohlfahrts­gruppe Centrepoin­t droht zwei Millionen Menschen bis zu 24 Jahren in den nächsten Jahren die Obdachlosi­gkeit, da sie von Entlassung­en als Erste betroffen sind. Zwei Drittel der unter 24-Jährigen würden „ohne finanziell­e Unterstütz­ung nicht über die Runden kommen“.

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