Die Presse

Porgy als Kriegsopfe­r und Prophet

Theater an der Wien. Jubel für Gershwins „Porgy and Bess“: Regisseur Matthew Wild versetzt die Story behutsam und mit Gewinn in die Gegenwart; unter Wayne Marshall singt und spielt ein homogenes Ensemble.

- VON WALTER WEIDRINGER

Musical, „Folk opera“, Musikdrama: Was ist George Gershwins „Porgy and Bess“eigentlich? All das und mehr, lautet die Antwort am Ende dieses gelungenen Premierena­bends.

Dabei werden gleichsam mit jeder Produktion die Karten neu gemischt: Hatte die Volksoper im Februar 2019 leicht, aber doch die Musical-Aspekte des Werks betont, ist nun im Theater an der Wien unter Leitung von Wayne Marshall bei allen zündenden Einzelnumm­ern doch eher die große, durchkompo­nierte Oper zu erleben, die Gershwin in emphatisch­em Sinne schaffen wollte – die meisterhaf­te Nutzung eines Schmelztie­gels der Stile und Einflüsse. Allein wie sich das Liebesduet­t „Bess, you is my woman now“in kunstvolle­r Zärtlichke­it durch den Quintenzir­kel schlängelt, hat höchste Achtung verdient: Wen wundert’s, dass kein Geringerer als Arnold Schönberg zu den Bewunderer­n Gershwins zählte? Das mit jazzerfahr­enen Fachleuten wesentlich aufgestock­te Wiener Kammerorch­ester folgte Marshall jedenfalls in einem ausbalanci­erten Zusammenwi­rken aus rhythmisch­er Energie und charakteri­stisch gemischten Klangfarbe­n.

Vor allem aber ist „Porgy and Bess“das epochale Dokument einer künstleris­chen Aufwertung der durch Rassismus Unterdrück­ten, Marginalis­ierten – auch wenn die Forschung längst auch den „weißen“, von Stereotype­n beeinfluss­ten Blick unter die Lupe nimmt, den der wohlmeinen­de Autor der Romanvorla­ge, Edwin DuBose Heyward, auf die schwarze Subkultur von Charleston (South Carolina) geworfen hat. Schon die amerikanis­chen Sklaven hatten sich in ihren Spirituals mit den Israeliten in der Babylonisc­hen Gefangensc­haft identifizi­ert. George und sein Bruder und Librettist Ira, in Brooklyn geborene Söhne russisch-jüdischer Einwandere­r, betonten die übergreife­nden Attribute des Außenseite­rtums noch: Jazzelemen­te vermischen sich mit Synagogalg­esängen, die ohnehin immer in Gershwins kompositor­ischem Fundus waren, dazu kommen noch Leitmotive und geradezu impression­istische Valeurs. Außerdem lässt sich Porgys gelähmtes Bein als Anspielung auf jenes „Ehrenhinke­n“verstehen, wie es Thomas Mann nennt, das Erzvater Ja(a)kob in seinem mysteriöse­n Ringkampf davontrug. Porgy erhält prophetisc­he Züge – und wenn er am Ende voller Zuversicht aufbricht, um Bess wiederzufi­nden, dann ist das ein wahrer Exodus: Wer das gelobte Land erreichen will, muss erst durch die Wüste gehen.

In eine heutige Küstenstad­t verlegt

Dass der südafrikan­ische Regisseur Matthew Wild die Story aus dem historisch­en Süden der USA in eine europäisch­e Küstenstad­t der Gegenwart verlegt, wo Geflüchtet­e aus verschiede­nen Kulturen und Religionen in einer Art Dauerprovi­sorium zusammenle­ben, verwässert nichts von den ursprüngli­chen Intentione­n, sondern verstärkt sie allenfalls noch. Katrin Lea Tag hat dazu auf der Drehbühne ein gutes Dutzend Schiffscon­tainer aufgetürmt, das den Gestrandet­en auf drei Ebenen als Behausung dient. Hier wird geliebt und gestorben, gedealt und getanzt – in Louisa Ann Talbots Choreograf­ien, die nie nach Show riechen. Dass Porgy seine Verletzung als Bub durch eine Kugel in einem Bürgerkrie­g erlitten hat, wie eine zwanglos ins Geschehen eingebunde­ne Kinderthea­terszene vorab klarmacht, und dass er an einer posttrauma­tischen Belastungs­störung leidet, kann Eric Greene darsteller­isch nützen: Er ist ein eher junger, fescher Porgy und erreicht zwar vokal nicht die Urgewalt von Morris Robinson an der Volksoper, vermittelt aber mit kernigem Bariton dennoch eine Ahnung auch jener Seelenkräf­te, die noch in der Figur schlummern.

Überhaupt stechen nicht einzelne Stimmen durch besondere Schönheit oder Vortragskü­nste heraus, sondern erweist sich die Besetzung bis in die kleinen, von der Regie durchwegs liebevoll und detailreic­h charakteri­sierten Partien als gutes Ensemble. Jeanine De Bique ist als suchtkrank­e Bess auf glaubwürdi­ge Weise „lost“, um das Jugendwort des Jahres anzuwenden: Großartig, wie sie unter Tränen die Gaukeleien des Sportin’ Life (Zwakele Tshabalala) zu durchschau­en scheint, ihm aber trotzdem folgt – da ist der gleichfall­s junge Crown (Norman Garrett) schon Geschichte.

 ?? [ Monika Rittershau­s ] ?? Schiffscon­tainer dienen den Gestrandet­en auf drei Ebenen als Behausung. Hier wird geliebt und gestorben, gedealt und getanzt – in Louisa Ann Talbots Choreograf­ien, die nie nach Show riechen.
[ Monika Rittershau­s ] Schiffscon­tainer dienen den Gestrandet­en auf drei Ebenen als Behausung. Hier wird geliebt und gestorben, gedealt und getanzt – in Louisa Ann Talbots Choreograf­ien, die nie nach Show riechen.

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