Wieso der Kapitalismus viel mit Fairness zu tun hat
Handel ist entwicklungsgeschichtlich die wichtigste Art der Begegnung mit Fremden, doch er basiert auf Moral und Vertrauen.
In einem lesenswerten Artikel berichtete Karl Gaulhofer in der „Presse am Sonntag“(27. 9.) über die faszinierenden, auf die 1990er-Jahre zurückgehenden Forschungen des Anthropologen Joseph Henrich. Er fand in Experimenten unter „Urvölkern“heraus, dass faires Teilen eher dort zu erwarten ist, wo das soziale (Über-) Leben der Menschen durch einen höheren Grad an Marktintegration geprägt ist.
Ganz überraschend ist dies nicht: Handel ist entwicklungsgeschichtlich die wichtigste Art der Begegnung mit Fremden, in der existenzielle Risken einer feindlichen Konfrontation in den Hintergrund treten – oder treten müssen: Solang man sich die Köpfe einschlägt, wird es schwerlich erfolgreichen Handel geben. Die Fähigkeit zum bedingten Verzicht auf Gewalt und Übervorteilung bzw. zum fairen Teilen dürfte somit eine Schlüsselrolle spielen – sowohl beim Aufbau erfolgreicher Austauschbeziehungen als auch bei der Moralentwicklung.
Allgemeiner formuliert: Sowohl der moderne Markt als auch marktförmiger Austausch unter „Urvölkern“ist nicht voraussetzungslos. Er setzt die Befolgung bestimmter Regeln und gewisse Tugenden voraus. Moralische Minimalvoraussetzungen von Handel sieht man eindrucksvoll anhand der legendären Schilderungen des „stummen Handels“, der ohne viel sprachliche Verständigung stattfand. Nach Berichten von Geschichtsschreibern wie Herodot fuhren die Karthager mit ihren Schiffen vor die westafrikanische Küste, deponierten ihre Waren an Land, signalisierten ihre Ankunft durch Rauchzeichen und zogen sich dann auf ihre Schiffe zurück. Nun näherten sich die Einheimischen, legten neben die Waren Gold hin und entfernten sich. Die Karthager fuhren dann zum Strand, um zu schauen, ob genug Gold deponiert worden war. Sie nahmen es mit, wenn sie mit der Goldmenge zufrieden waren. Andernfalls rührten sie das Gold nicht an und warteten auf den Schiffen. Erst wenn beide Teile zufrieden waren, nahmen die einen die Waren und die anderen das Gold.
Der Markt „lehrt“Moral
Unabhängig davon, ob solche vielfach überlieferten Handelsrituale historisch genau belegbar sind oder nicht: Es liegt auf der Hand, das Handel mit fremden Völkern nicht funktioniert hätte, hätte die Fähigkeit zu Vertrauen und Fairness (versinnbildlicht in diesen Ritualen) gänzlich gefehlt. Austausch und Markt „lehren“Moral, weil sie ohne Moral nicht entstehen und wohl auch nicht dauerhaft funktionieren.
Und heute? Hier kommt eine weitere Überlegung ins Spiel. Fairness und Vertrauen entwickeln sich wohl dort besonders gut, wo die Menschen die Erfahrung machen, dass sie sich auf Dauer und im Durchschnitt verläss
lich lohnen. Dafür sorgen Institutionen wie der Rechtsstaat: Je mehr wir die Erfahrung machen, dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die lügen und betrügen, umso weniger werden wir fürchten, zum Opfer eines Betrugs zu werden, dass unser Vertrauen missbraucht wird und dass Fairness ausgebeutet wird.
In diesem Sinn ist es nicht der Markt an sich, sondern die Erfahrung mit der effektiven Durchsetzung von Spielregeln des Marktwettbewerbs, die dem sozialen Lernen von Fairness und Kooperation zuträglich ist.
Markt und Moral bedingen sich
Henrich hat seine Forschungen zusammen mit Verhaltensökonomen wie Colin Camerer und Ernst Fehr weitergeführt. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, die für das Wirtschaften in der Ära von Blockchain, Google und Co. weit relevanter sind als der bloße Befund, dass Markt und Moral sich nicht ausschließen, sondern sich sogar entwicklungsgeschichtlich bedingen.
Insgesamt bedeuten die Befunde Henrichs nicht, dass Markt und Wettbewerb immer die Moral fördern. Vielmehr entsteht aus den Befunden und Einsichten der empirischen Anthropologie und der modernen Verhaltensökonomik ein differenziertes Bild, das sowohl die
Leistungsfähigkeit als auch die Abwege des modernen Kapitalismus zu verstehen hilft. Wir sehen, dass zwei scheinbar völlig konträre Megathesen zum Thema „Markt und Moral“, die seit Jahrhunderten Diskussionen befeuern, sich nicht unbedingt widersprechen. Denn man kann Bedingungen angeben, unter denen die eine oder die andere zutrifft:
These 1: Der Markt führt tendenziell zur Erosion von Moral. Oder in einer auf den prominenten deutschen Ordoliberalen Wilhelm Röpke zurückgehenden Variante: Wirtschaftlicher Wettbewerb ist ein „Moralzehrer“.
These 2: Handel führt zu zivilisierten Sitten und Moral. Er verstärkt Tugenden, die dem reibungslosen
Handel dienlich sind (Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Fairness) und trägt dazu bei, dass Menschen sich als gleichrangig anerkennen (= Douxcommerce-These, bekannt durch Albert Hirschmans Zusammenfassung entsprechender Äußerungen Montesquieus, wonach der Handel zu guten Sitten führt).
Beide Thesen sind letztlich Anwendungsfälle einer evolutorischen Sicht auf Präferenzen, Einstellungen, Normen und Institutionen. Institutionen fallen nicht vom Himmel, sondern sind das Ergebnis menschlichen Handelns. Aber Institutionen und die Spielregeln des Wettbewerbs wirken auf Präferenzen und Einstellungen zurück. Man könnte auch sagen: Institutionen, Präferenzen und Einstellungen entwickeln sich gemeinsam in einem Prozess der Co-Evolution.
Oben wurde ein Szenario skizziert, das zur Doux-commerceThese passt: Der Rechtsstaat bietet gute Rahmenbedingungen für Märkte und fördert gleichzeitig eine Moral, die Handel und Kooperation unterstützt. Dass es so kommt, ist aber kein Naturgesetz. Nicht nur in der Finanzkrise war viel von den Tugenden des ehrbaren Kaufmanns die Rede, die stellenweise abhandengekommen seien. Heute kann man fragen: Was ist die Folge, wenn sich die faktischen Spielregeln des Marktwettbewerbs in Richtung „winner takes all“entwickeln – getrieben etwa von den steigenden Skalenerträgen der Datenökonomie? Was bedeutet es, wenn nur zählt, der Erste zu sein? Werden solche Märkte „uns“immer noch Moral lehren? Zweifel sind angebracht, wenn wir auf den einen oder anderen „Skandal“der jüngeren Vergangenheit blicken. Oder was folgt, wenn Vertrauen überflüssig wird, weil die Blockchain-Ökonomie angeblich „trustless“funktioniert? Wird der Markt dann zur moralfreien Zone?
Spielregeln klug weiterdenken
Ob die Doux-commerce-These oder ihr Gegenteil zutrifft, hängt von der Entwicklung der Rahmenbedingungen ab. Es ist kein Widerspruch, dass hervorragende Autorinnen und Autoren hier das eine und dort das andere diagnostiziert haben. Insgesamt ist wenig damit gewonnen, wenn man den Markt pauschal als Hort bürgerlicher Tugenden glorifiziert oder als Moralzehrer kritisiert.
Interessant ist vielmehr, was man dafür tun kann, um die Symbiose von Markt und Moral durch kluge Entwicklung der Spielregeln in der digitalen Transformation für das 21. Jahrhundert weiterzuentwickeln.