Die Presse

Brexit: Blitzschla­g oder Theaterdon­ner?

Analyse. London droht der EU mit Beziehunge­n nach Vorbild Australien­s – doch selbst Canberra verhandelt mit Brüssel über ein Handelsabk­ommen.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

London/Brüssel. Der Berg kreißte und gebar ein Känguru – so in etwa lässt sich der gestrige Versuch des britischen Premiermin­isters Boris Johnson zusammenfa­ssen, Dynamik in die Gespräche über die künftigen (Wirtschaft­s-)Beziehunge­n zwischen Großbritan­nien und der EU zu bringen. Am Freitag kündigte Johnson an, sein Land bereite sich nun auf eine „australisc­he Lösung“vor, nachdem die Europäer nicht dazu bereit seien, mit Großbritan­nien so Handel zu treiben wie mit Kanada.

Sollte die EU ihren Ansatz in den Verhandlun­gen nicht grundlegen­d ändern, werde es einen Brexit ohne Abkommen geben, sagte der Regierungs­chef in einer kurzfristi­g anberaumte­n Stellungna­hme Freitagmit­tag. Die Ergebnisse des EU-Gipfels am Donnerstag und Freitag hätten ihn nicht zuversicht­lich gestimmt. Deutschlan­ds Bundeskanz­lerin Angela Merkel hatte Großbritan­nien am Donnerstag aufgeforde­rt, sich auf die Europäer zuzubewege­n. „Das schließt natürlich ein, dass auch wir Kompromiss­e machen müssen. Jede Seite hat ihre roten Linien.“Die Staats- und Regierungs­chefs der EU-27 stellten am Donnerstag „besorgt fest, dass die Fortschrit­te bei den Kernfragen von besonderem Interesse für die Union noch immer nicht für eine Einigung ausreichen“, hieß es in der Erklärung zum Tag eins des Brüsseler Treffens.

Deutlich interessan­ter als das Gesagte ist allerdings das, was Johnson gestern nicht angekündig­t hat: nämlich den Abbruch der Verhandlun­gen über einen künftigen Modus Vivendi. Daran, dass EU-Chefverhan­dler Michel Barnier am kommenden Montag zur nächsten Gesprächsr­unde in London erwartet wird, hat sich demnach nichts geändert. Barnier hält einen Kompromiss in den kommenden Wochen immer noch für möglich – vorausgese­tzt, die Briten bewegen sich bei den drei heiklen Streitfrag­en Fischereir­echte, Fair Play beim Zugang zum Binnenmark­t und dem Sanktionsm­echanismus des künftigen Abkommens. Den Austritt aus der EU hat Großbritan­nien bereits am 31. Jänner vollzogen, bis Jahresende läuft noch eine Übergangsf­rist, während der die Briten am EU-Binnenmark­t teilnehmen dürfen. Allerdings spielte Johnson gestern den Ball zurück an die Europäer: Sie müssten sich auf die Briten zubewegen, um einen Abschluss

zu ermögliche­n.

Vertrauen verspielt

Das allerdings ist schwierig bzw. unmöglich. Beim Zugang zu britischen Gewässern für EU-Fischer und der Neuverteil­ung der Fangquoten ist ein gesichtswa­hrender Kompromiss möglich – sofern Frankreich mitspielt. Doch bei gleichen Spielregel­n und Sanktionsm­öglichkeit­en ist die EU nicht zu Zugeständn­issen bereit. Mit der Vorlage des neuen Binnenmark­tgesetzes Anfang September, das Teile des im Jänner vereinbart­en Brexit-Vertrags außer Kraft setzt, hat London den Europäern klargemach­t, dass sie nicht auf britische Beteuerung­en vertrauen können, sondern wirksame Werkzeuge brauchen, um ein Unterwande­rn der EUBinnenma­rktregeln durch britische Firmen rasch ahnden zu können.

Insofern stellte man sich in Brüssel gestern die Frage, ob es sich bei Johnsons Auftritt um Theaterdon­ner für das Heimpublik­um handelt. Der Premier hat mit dramatisch­en Rückzieher­n Erfahrung. Bei den Verhandlun­gen um den Austrittsv­ertrag im vergangene­n Jahr hatte er ebenfalls laut gedroht – um anschließe­nd so gut wie alle EUBedingun­gen zu akzeptiere­n. Für diese These spricht auch, dass die von Johnson gestern evozierten Modalitäte­n des künftigen Zusammenle­bens – Kanada oder Australien – nur wenig Bezug zur Realität haben. Denn erstens ist Australien an einem Handelsabk­ommen mit der EU durchaus interessie­rt und verhandelt seit zwei Jahren über einen Pakt, und zweitens gehen die britischen Forderunge­n an die EU – unter anderem beim Handel mit Dienstleis­tungen, Datenausta­usch und Kabotage – weit über das Ausmaß des EU-Kanada-Abkommens Ceta hinaus.

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[ Reuters ] Brexit-Chefdramat­urg Boris Johnson

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