Brexit: Blitzschlag oder Theaterdonner?
Analyse. London droht der EU mit Beziehungen nach Vorbild Australiens – doch selbst Canberra verhandelt mit Brüssel über ein Handelsabkommen.
London/Brüssel. Der Berg kreißte und gebar ein Känguru – so in etwa lässt sich der gestrige Versuch des britischen Premierministers Boris Johnson zusammenfassen, Dynamik in die Gespräche über die künftigen (Wirtschafts-)Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU zu bringen. Am Freitag kündigte Johnson an, sein Land bereite sich nun auf eine „australische Lösung“vor, nachdem die Europäer nicht dazu bereit seien, mit Großbritannien so Handel zu treiben wie mit Kanada.
Sollte die EU ihren Ansatz in den Verhandlungen nicht grundlegend ändern, werde es einen Brexit ohne Abkommen geben, sagte der Regierungschef in einer kurzfristig anberaumten Stellungnahme Freitagmittag. Die Ergebnisse des EU-Gipfels am Donnerstag und Freitag hätten ihn nicht zuversichtlich gestimmt. Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Großbritannien am Donnerstag aufgefordert, sich auf die Europäer zuzubewegen. „Das schließt natürlich ein, dass auch wir Kompromisse machen müssen. Jede Seite hat ihre roten Linien.“Die Staats- und Regierungschefs der EU-27 stellten am Donnerstag „besorgt fest, dass die Fortschritte bei den Kernfragen von besonderem Interesse für die Union noch immer nicht für eine Einigung ausreichen“, hieß es in der Erklärung zum Tag eins des Brüsseler Treffens.
Deutlich interessanter als das Gesagte ist allerdings das, was Johnson gestern nicht angekündigt hat: nämlich den Abbruch der Verhandlungen über einen künftigen Modus Vivendi. Daran, dass EU-Chefverhandler Michel Barnier am kommenden Montag zur nächsten Gesprächsrunde in London erwartet wird, hat sich demnach nichts geändert. Barnier hält einen Kompromiss in den kommenden Wochen immer noch für möglich – vorausgesetzt, die Briten bewegen sich bei den drei heiklen Streitfragen Fischereirechte, Fair Play beim Zugang zum Binnenmarkt und dem Sanktionsmechanismus des künftigen Abkommens. Den Austritt aus der EU hat Großbritannien bereits am 31. Jänner vollzogen, bis Jahresende läuft noch eine Übergangsfrist, während der die Briten am EU-Binnenmarkt teilnehmen dürfen. Allerdings spielte Johnson gestern den Ball zurück an die Europäer: Sie müssten sich auf die Briten zubewegen, um einen Abschluss
zu ermöglichen.
Vertrauen verspielt
Das allerdings ist schwierig bzw. unmöglich. Beim Zugang zu britischen Gewässern für EU-Fischer und der Neuverteilung der Fangquoten ist ein gesichtswahrender Kompromiss möglich – sofern Frankreich mitspielt. Doch bei gleichen Spielregeln und Sanktionsmöglichkeiten ist die EU nicht zu Zugeständnissen bereit. Mit der Vorlage des neuen Binnenmarktgesetzes Anfang September, das Teile des im Jänner vereinbarten Brexit-Vertrags außer Kraft setzt, hat London den Europäern klargemacht, dass sie nicht auf britische Beteuerungen vertrauen können, sondern wirksame Werkzeuge brauchen, um ein Unterwandern der EUBinnenmarktregeln durch britische Firmen rasch ahnden zu können.
Insofern stellte man sich in Brüssel gestern die Frage, ob es sich bei Johnsons Auftritt um Theaterdonner für das Heimpublikum handelt. Der Premier hat mit dramatischen Rückziehern Erfahrung. Bei den Verhandlungen um den Austrittsvertrag im vergangenen Jahr hatte er ebenfalls laut gedroht – um anschließend so gut wie alle EUBedingungen zu akzeptieren. Für diese These spricht auch, dass die von Johnson gestern evozierten Modalitäten des künftigen Zusammenlebens – Kanada oder Australien – nur wenig Bezug zur Realität haben. Denn erstens ist Australien an einem Handelsabkommen mit der EU durchaus interessiert und verhandelt seit zwei Jahren über einen Pakt, und zweitens gehen die britischen Forderungen an die EU – unter anderem beim Handel mit Dienstleistungen, Datenaustausch und Kabotage – weit über das Ausmaß des EU-Kanada-Abkommens Ceta hinaus.