„Bei diesen Bildern bin ich schier ausgeflippt“
Molekularbiologie. Jürgen Knoblich forscht in Wien an kleinen Gehirnstückchen, die im Labor wachsen. Solche Organoide bringen neue Erkenntnisse zu den Ursachen von Erkrankungen wie Autismus.
Die Presse: Wie fühlten Sie sich, als Sie zum ersten Mal im Labor ein Organoid sahen, das unserem Gehirngewebe gleicht?
Jürgen Knoblich: Da kann ich mich genau erinnern. Als meine Mitarbeiterin Madeline Lancaster vor fast neun Jahren diese Methodik entwickelt hat, bin ich schier ausgeflippt. Diese Bilder von dem Organoid waren beeindruckend. Ein Bild, auf dem ein Organoid ein Auge ausgebildet hat, ist dann um die Welt gegangen. Mich hat auch fasziniert, dass im Querschnitt die Struktur der Organoide unglaublich ähnlich der Struktur eines fötalen menschlichen Gehirns war.
Mit welcher Entwicklungswoche eines Fötus kann man diese MiniBrains vergleichen?
Den Begriff Mini-Brain mögen wir gar nicht. Ich muss klarstellen, dass ein Organoid im Labor nie ein Gehirn in Miniformat ist, sondern nur einen gewissen Bereich aus dem fötalen Gehirn nachbildet. Unsere Faszination damals war, dass diese Nervenzellen im Labor miteinander kommunizieren und Schaltkreise ausbilden. Seither hat alles, was wir an solchen kleinen Stücken Gehirngewebe getestet haben, funktioniert. Aber Organoide werden nie Minigehirne sein.
Der Ausdruck „Erbsenhirn“ist also nicht treffend?
Von der Größe und von der optischen Erscheinung hat ein Organoid viel mehr mit einer Erbse zu tun als mit einem menschlichen Gehirn. Der Durchbruch unserer Forschung ergab sich durch die Zusammenarbeit mit einem Kliniker, der an Erbkrankheiten forscht. Da konnten wir Stammzellen von einem Patienten herstellen, der an Mikrozephalie leidet.
Ist das die gleiche Mikrozephalie, die durch das Zika-Virus berühmt wurde?
Ja, die Krankheit kann durch Viren verursacht werden oder durch einen Gendefekt. Wir haben gemerkt, dass Organoide im Labor kleiner werden, wenn die Stammzellen so einen Gendefekt haben. Plötzlich hatten wir also ein Zellkulturmodell für diese Krankheit und konnten erstmals aufklären, warum ein Gehirn bei der Krankheit so klein ist: Der Mechanismus, der unsere Gehirngröße reguliert, läuft über die Art und Richtung, in der sich die Zellen teilen.
Organoide führen nun zu medizinischen Erkenntnissen?
Das ist das Faszinierende. Ich komme aus der Genetikforschung an Drosophila- Fliegen. Bei der Nobelpreisträgerin Christiane NüssleinVolhard habe ich in Tübingen die Loss-of-function-Genetik gelernt: Man zerstört in Fliegen ein Gen nach dem anderen und schaut, was passiert. Jedes Gen, bei dem die Fliege z. B. keine Flügel ausbildet, ist für die Flügelentwicklung wichtig. Organoide ermöglichen uns, solche Genetik in menschlichem Gewebe zu machen. Wir haben 140 Gene, die bei Mikrozephalie eine Rolle spielen könnten, in den Zellkulturen der Reihe nach kaputt gemacht und dabei 25 Gene gefunden, bei denen die Organoide kleiner wurden, die also Mikrozephalie verursachen. Dieses Prinzip kann man nun auf andere Krankheiten anwenden, um systematisch die genetischen Ursachen zu finden.
Wir versuchen es nun für Autismus.
Apropos Nobelpreisträgerin: Emmanuelle Charpentier, die 2020 den Nobelpreis für Chemie erhält, war eine Kollegin von Ihnen am Vienna BioCenter. Emmanuelle war damals Gruppenleiterin in den benachbarten Max Perutz Labs, und sie hat dann mit Jennifer Doudna die CRISPR/Cas9 Technologie entdeckt. Diese Genschere ist eine wichtige Triebfeder für die Stammzell- und Organoidforschung und ist genau die Methode, die wir für die Loss-of-function-Genetik einsetzen.
Sehen Sie als wissenschaftlicher Leiter noch Organoide im Labor? Ich schaue sie mir sehr gern selber an, aber führe keine Experimente mehr durch. Meine Aufgabe besteht darin, Forschungsgelder aufzutreiben und die Ergebnisse in eine publizierbare Form zu bringen. Meistens sehe ich die Organoide, wenn wir Politiker oder Wissenschaftler zu Besuch haben.
Sie wurden im September in die Päpstliche Akademie der Wissenschaften des Vatikans berufen: Auf welche Weise haben Sie von der Aufnahme erfahren?
Da kam ein E-Mail, in dem stand: Please find attached a letter from Pope Francis.
Und das haben Sie nicht wegen Spam-Verdachts gelöscht?
Ich habe es mit meiner Sekretärin besprochen, ob ein solches Spam derzeit üblich ist. Wir haben dann den Brief geöffnet und da war die Unterschrift des Papstes drauf.
Nun die Gretchenfrage: Wie halten Sie es mit der Religion?
Ich bin zwar katholisch und war in meiner Jugend in der Kirche aktiv und auch im Pfarrgemeinderat. Aber für die Päpstliche Akademie der Wissenschaften muss man weder gläubig noch katholisch sein.
Die meisten Mitglieder sind anderer Religionen, viele sind bekennende Agnostiker.
Was ist Ihre Aufgabe?
Wir stellen dem Vatikan das wissenschaftliche Wissen der Menschheit zur Verfügung. Diese älteste Akademie der Wissenschaften wurde 1603 gegründet, und eines der ersten Mitglieder war Galileo Galilei, der nicht als Freund der katholischen Kirche bekannt ist. Seine Mitgliedschaft hat ihn auch nicht vor der Verfolgung durch die Kirche geschützt. Wie jede Akademie der Wissenschaften ist sie ein traditionelles Gegengewicht zum König oder Kaiser – und in dem Fall zur Päpstlichen Kurie.
Haben Sie den Papst getroffen? Nein. Ich hatte vorige Woche mein erstes Meeting mit der Akademie, und normalerweise ist der Papst da. Jetzt wurde die Konferenz aber digital abgehalten. Es ging darum, wie die Wissenschaft beitragen kann, die Covidkrise zu lösen, aber nicht in den reichen Ländern, sondern in Asien, Afrika und Lateinamerika. Sollte der Papst einmal nach Wien kommen, weiß ich nicht, ob ich da hingehen würde.
Diese Akademie der Wissenschaften informiert also den Vatikan über neueste Ergebnisse?
Ich finde, Akademien der Wissenschaften – auch die ÖAW, in der ich mich als Mitglied sehr wohlfühle – sind heute wichtiger denn je. Wir leben in einer Zeit, in der Missinformation und das Ignorieren wissenschaftlicher Tatsachen immer mehr um sich greifen. Da ist es extrem wichtig, dass sich Regierungen anhören, was die Meinung der Wissenschaft ist.