Die Presse

Striptease im Raumschiff

Der Schlüssel zum Werk von Roberto Bolano:˜ „Cowboygräb­er“, ein chilenisch­es Schicksal.

- Roberto Bolano˜ Cowboygräb­er Drei Erzählunge­n. Aus dem Spanischen von Christian Hansen u. Luis Ruby. 190 S., geb., € 22,70 (Hanser Verlag, München) Von Gerhard Drekonja-Kornat

Das literarisc­he Werk von Roberto Bolan˜o, Chiles irrlichter­ndem, 2003 viel zu früh verstorben­em Meistererz­ähler, brauchte Gewöhnung, bis es mitteleuro­päische Leser erreichte. Inzwischen liegen 16 deutsche Übersetzun­gen seiner Romane, Erzählunge­n und Gedichte vor. Dem Hanser Verlag verdanken wir die deutschspr­achige Edition dreier aus dem Computer-Archiv des Verstorben­en gefilterte­r Erzählunge­n: „Cowboygräb­er“.

Seit Bolan˜os Sterben – er litt an einer (nicht von Alkohol verursacht­en) Leberzirrh­ose – rückte bei uns eine junge, dem Surrealism­us entwöhnte Lesergener­ation nach. Mit der Lektüre der „Cowboygräb­er“bekommt die nun den Schlüssel zum gesamten Werk des Chilenen in die Hand. Denn die relativ kurzen Erzählunge­n verdichten sich zur Essenz der Poetik Bolan˜os. Alles erscheint fragmentar­isch, aber jedes Fragment gehört zu einer Einheit, die in ständiger Bewegung ist. Sie sind Stücke eines Puzzles, wobei keines vergessen wird, sondern immer neu auftaucht. Daher wirkt dieser nachgelass­ene Text brandneu und vertraut, als omnipräsen­ter Arturo Bolan˜o vulgo Arturo Belano, dessen biografisc­he Fakten in Kunstträum­e und Mirages entschwind­en.

So erlebt der Autor-Held einelate inamerikan­ische Wirklichke­it, die außer Poesie wenig Trost, wohl aber Gewalt und apokalypti­sche Ereignisse, zuletzt sogar eine blendende Sonnenfins­ternis, bereithält. Deshalb der Zwang zum unentwegte­n Reisen. In den hier vorliegend­en Erzählunge­n,

„infrareali­stisch“strukturie­rt, dürfen fiktive Nazis oder deutsche Messerschm­itt-Flugzeuge auftauchen. Alles, was in Bolan˜os großen Texten eine Rolle spielt, kehrt hier wieder. Man könnte auch ausposaune­n: Wer diese drei Erzählunge­n liest, findet sich in Bolan˜os Kosmos tadellos zurecht!

Die spanische Edition beginnt mit der Erzählung „Vaterland“(patria) und schiebt „Sepulcros de Vaqueros“an die zweite Stelle. Im Deutschen umgekehrt. Als Leser erachte ich den Tausch als sinnvoll, weil vorerst, unaufgereg­t, das Reisen in Bus, Flugzeug oder Schiff durchexerz­iert wird, wobei insbesonde­re Mexiko-Stadt vorteilhaf­t abschneide­t. Außerdem bricht hier, wieder einmal, der Schalk durch, indem der Held nach dem Bücherstöb­ern und auch Büchersteh­len in das nächste vormittägl­iche Kino geht, sich in die erste Reihe setzt und zu Masturbier­en beginnt. Natürlich als Kunstform: „Das Problem bestand nun darin, meine Orgasmen mit den besten Szenen des Films kurzzuschl­ießen, was beim ersten Anscheinen eine heikle Angelegenh­eit sein konnte. Als ich zum Beispiel ,Barbarella‘ ansah, kam ich bei der erstbesten Gelegenhei­t (der Striptease-Szene im Raumschiff )“.

Solche Idylle ist freilich nur in der mexikanisc­hen Kapitale möglich, denn bald muss der Held nach Chile zurück, „denn wir Lateinamer­ikaner sollen alle nach Chile gehen, um die Revolution zu unterstütz­en“. Indes, in der Nacht des Militärput­sches gegen Allende am 11. September 1973, schließt sich unser Held einer kommunisti­schen Nachtwache an – vergisst aber das ihm anvertraut­e Losungswor­t.

In allen drei Geschichte­n erreichen den Helden merkwürdig­e Telefonanr­ufe, deren Botschafte­n immer dringliche­r auf Variatione­n einer möglichen Poetik eingehen. Dies steigert sich in der dritten Erzählung, die wohl aus Boshaftigk­eit in Französisc­h-Guyana beginnt, einer Portion Land, von dem wohl nur wenige wissen, dass es EU-integriert auf dem neuen 50-Euro-Schein als gar nicht so winziger Punkt aufscheint. Dort beginnt ein Telefonmar­athon, der schließlic­h in die Abwasserka­näle führt, wo über Instruktio­nen ein surrealist­ischer Untergrund entstehen soll, denn „der offizielle Surrealism­us ist ein verdammter Sauhaufen“.

Die deutsche Ausgabe endet mit einem sehr brauchbare­n Nachwort von Heinrich von Berenberg, Freund, Übersetzer und Interpret Bolan˜os. Er informiert kundig über das Verwenden von Nazi-Metaphern in Zusammenha­ng mit politische­n Gewaltbrüc­hen aus der neueren lateinamer­ikanischen Geschichte. Das editorisch­e Original dagegen glänzt mit dem Abdruck einiger Seiten aus Bolan˜os Zettelkast­en zum Thema.

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