Ein Schloss für uns allein
Schlösserstraße. Corona macht’s möglich: Selbst in sonst gut gebuchten Häusern wie dem steirischen Schloss Obermayerhofen ist man plötzlich der einzige Gast. Was zu ungewöhnlichen Begegnungen führt.
Sie sind die einzigen Gäste“, sagt die Dame am Empfang. Später wird sie sich als Schlossherrin Brigitte Kottulinsky herausstellen. Die einzigen Gäste in Obermayerhofen? Man ist überrascht. Noch mehr: Nachts ist man ganz allein. Die Schlossherren und das Personal schlafen anderswo. „Keine Sorge“, wird man beruhigt, „wir sehen Sie. Rufen Sie einfach an, wenn Sie etwas brauchen.“
Ob „Wir sehen Sie“ihrer gastgeberischen Umsicht entspringt oder ein subtil vorauseilender Ordnungsruf ist – er tut seine Wirkung. Auch wenn man in Schloss, Park, Weinberg und Obstgarten keiner Menschenseele begegnet, man benimmt sich. In der Suite sorgen die Ahnenporträts dafür, deren Blicke einem überall hin folgen. Wer weiß, um Mitternacht erwachen die Bilder vielleicht zum Leben.
Schloss Obermayerhofen liegt an der steirischen Schlösserstraße, im Dreieck mit Schloss Herberstein und Schloss Hartberg. In normalen Saisonen ist Obermayerhofen eine beliebte Hochzeitslocation. Aber was ist heuer schon normal? 30 Hochzeiten statt 60, sagt eine Angestellte, maximal. Auch der Seminartourismus hält sich heuer in Grenzen. Unter der Woche gibt es kaum Gäste.
Man gewöhnt sich schnell an das Alleinsein. Lustwandelt ungestört durch Schloss, Wald und Wiese, genießt das fürstliche Frühstück im Bademantel in der Suite oder im Frühstückssalon, dessen Wände mit Dschungelidyllen bemalt sind – wie man sich halt 1780 einen Dschungel vorstellte. Man streicht durch die Gänge, staunt über die Adelsnamen an den Zimmertüren und schmökert in den Geschichtsbüchern.
Pestilenz und Brautraub
Das Schloss hat eine wild bewegte Geschichte. 1170 erstmals urkundlich erwähnt, war es ständig von „einfallenden ungarischen oder türkischen Horden, Heuschrecken und Pestilenz“bedroht, aber auch von Machtkämpfen, Mord und Raub.
Als 1405 der Burgherr früh verstarb und eine so junge wie schöne und reiche Witwe hinterließ, standen die Freier Schlange. Also bat der mächtige, aber grobe obersteirische Ritter Ernest von Lobming den feschen Ritter Günther von Herberstein, in Lobmings Namen um die Hand der Witwe anzuhalten.
Man ahnt es: Der Liebesbote und die schöne Anna entflammten füreinander und feierten bald Hochzeit. Das ließ der zurückgewiesene Lobminger nicht auf sich sitzen, schwor Blutrache und ließ die Jungvermählten noch in der Hochzeitsnacht verschleppen. Niemand fand die Unglücklichen, bis im Jahr darauf ein neuer Herzog die Regionalgeschäfte übernahm und den bösen Lobminger für seine zahllosen Übeltaten zur Rechenschaft zog. Um sich reinzuwaschen, ließ der die Gefangen frei, nicht ohne sie vorher „Versöhnungsbriefe“unterschreiben zu lassen. Zu spät: Der Herzog erkannte ihm sämtliche Titel ab und legte seine Burg in Schutt und Asche.
Parkett verheizt
1777 taucht erstmals der Name Kottulinsky auf. Josef Graf Kottulinsky erwarb Schloss und Herrschaft, seine Erben veräußerten es in der Zwischenkriegszeit wieder. Exakt 200 Jahre später, 1977, erwarb der heutige Schlossherr, Harald Graf Kottulinsky, das von den russischen Besatzern leer geräumte und schwer devastierte Haus. Er fand verheiztes Parkett, zertrümmerte Empireöfen und zerschossene Kristallluster.
Obermayerhofen wurde Kottulinskys Lebenswerk. Mit unermüdlichem Engagement, Kunstkenntnis und Akribie restaurierte der frühere Buchverleger das Schloss. Bereitwillig erzählt der betagte Graf seinen Gästen, wie er der Versuchung widerstand, sich selbst im Schlosspark einen der damals so modernen Bungalows errichten zu lassen, „oder einen Hühnerstall im Rittersaal“. Lieber renovierte er die Gebäude stilecht und füllte Raum für Raum mit Kunst.
Jedes Objekt hat eine Geschichte: In Bayern spürte er zwei verloren gegangene Rokoko-Steinputten auf und holte sie heim. In Italien erstand er zwei Steinsäulen und ließ sie mit dem Kran durchs Dachbodenfenster hieven, um damit die Decke der Ahnengalerie abzustützen. Vorher verjagte er „Hundertschaften von Fledermäusen“. Einen Jugendstilluster, dessen Einzelteile er im Plastiksackerl fand, baute er selbst wieder zusammen.
Die Anekdoten merkt man sich schnell, aber es dauert eine Weile, bis man Epochen und Adelsgeschlechter auseinanderhält. Belohnt wird man mit einem neuen Gefühl für Generationen, Raum und Zeit. Und mit Verständnis für die Bürde adeliger Herkunft, für ihre historische, gesellschaftliche und monetäre Verantwortung. Kommendes Jahr übergibt der Graf an seinen Sohn Moritz. Wie wird dieser mit dem Erbe umgehen? Wer je eine Erbschaft unter mehreren Kindern aufgeteilt hat: Es geht noch komplizierter.
Zurück im Hier und Jetzt muss auch der Hotelgast lernen, mit neuen Zeiten zurechtzukommen. Das Wochenende rückt näher, eine Hochzeitsgesellschaft und eine Seminargruppe haben eingecheckt. Das Schloss gehört einem nicht mehr allein. Schade: Man gewöhnt sich schnell daran.