Wie die Gemeinsamkeit verloren ging
Analyse. Im achten Monat der Coronakrise in Österreich scheint auf Eigenverantwortung und Gemeinschaftsgefühl kein Verlass mehr zu sein. Ein hausgemachtes Problem. Abgefahren ist dieser Zug aber noch nicht.
Wien. Leicht ist diese Situation nicht zu verstehen. Für niemanden. An der Grippe sterben jährlich mehr als 1000 Menschen, in starken Jahren sogar mehrere Tausend, aber abgesehen von einer halbherzig beworbenen Impfung, die nicht mehr als acht Prozent der Bevölkerung in Anspruch nehmen, wird nichts unternommen. Keine Zugangsbeschränkungen in Spitälern, kein Verbot von Großveranstaltungen in Innenräumen, keine eindringlichen Appelle, Abstand zu halten und sich stündlich die Hände zu waschen.
Am Coronavirus hingegen sind bisher 900 Menschen gestorben. Und die Krankenhäuser waren auch nie überlastet. Nicht einmal ansatzweise. Dennoch wurde das Land sechs Wochen lang in eine Art Koma versetzt, langsam wieder geweckt und befindet sich seither in einem Dämmerzustand. Mit kaum abschätzbaren Langzeitfolgen.
War der Lockdown wirklich notwendig? Und sind die aktuellen Maßnahmen wie etwa Sperrstunden in der Gastronomie,
Höchstgrenzen für Teilnehmer von Feiern, Reisewarnungen sowie die Maskenpflicht angesichts der Auswirkungen auf Wirtschaft und Psyche noch verhältnismäßig?
Fragen, die nicht mit Ja oder Nein zu beantworten sind und in Teilen der Bevölkerung zu einer Nachlässigkeit, Verdrossenheit und Frustration geführt haben – mit der Folge, dass Österreich die Zahl der Infektionen nicht in den Griff bekommt und auf zusätzliche Verschärfungen der Maßnahmen zusteuert. Ein weiterer Nebeneffekt sind Frontenbildungen, die sachliche, auf Fakten basierende Diskussionen erschweren.
Das Paradoxon der Prävention
Hinter dieser Entwicklung steckt im Wesentlichen das sogenannte Paradoxon der Prävention, das im Coronakontext so beschrieben werden könnte: Eine Gemeinschaft betreibt großen Aufwand, um eine drohende Katastrophe erfolgreich abzuwenden, und ist sich anschließend nicht mehr sicher, ob die Bemühungen überhaupt gerechtfertigt waren. Vor allem dann, wenn es keine unmittelbare und persönliche Belohnung gibt, weder über den Aufwand (Lockdown) noch über die Katastrophe (Pandemie) allzu viel bekannt ist, das Wissen darüber laufend wächst und die neu gewonnenen Informationen teilweise im Widerspruch zu den bisherigen stehen – wie das beispielsweise beim Nutzen von Masken und bei der Dauer der ansteckenden Phase von Infizierten der Fall war.
So wird beim Vergleich des Coronavirus mit dem Influenzavirus schlichtweg übersehen, dass die jährlichen Grippetoten, Gangbetten in Spitälern und Schulschließungen das Resultat einer gesellschaftlich akzeptierten, beinahe vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber einer seit Jahrzehnten bekannten Erkrankung sind, während die bisherigen Covid-19-Patienten sowie -Toten trotz der größtmöglichen Vorkehrungen nicht verhindert werden konnten.
Wie wirksam diese Vorkehrungen waren, zeigt unter anderem der unbestrittene Umstand, dass der Lockdown Mitte März die ungewöhnlich starke Grippesaison 2019/2020 schlagartig beendete – eine Tatsache, die nie angemessen zur Sprache kam.
Schwerwiegende Fehler im Krisenmanagement
Aber wie kann man so etwas Eindeutiges übersehen? Warum werden diese Zusammenhänge von vielen nicht erkannt? Wegen Versäumnissen und schwerwiegenden Fehlern im Krisenmanagement der Regierung, sagt die auf Gesundheitspsychologie und -kommunikation spezialisierte Psychologin Martina Molnar aus Wien. Das umfassende Informieren der Bevölkerung hätte in viel höherem Ausmaß Gesundheits- und Kommunikationsexperten überlassen werden sollen, darüber hinaus sei zu sehr auf Angst statt Aufklärung gesetzt worden – anfangs auf die Angst vor überlasteten Spitälern und Todesopfern in der eigenen Familie, mittlerweile auch auf die vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Aber Angst und die Androhung von Sanktionen allein führten nicht zu nachhaltigen Verhaltensänderungen, dafür brauche es auch „positive Verstärker“.
Tatsächlich ist es erstaunlich, dass abgesehen vom Babyelefanten, um den notwendigen Abstand zwischen zwei Personen zu verdeutlichen, kaum kreative Kampagnen erstellt wurden, um die Wirkung und Bedeutung der Vorgaben zu erklären. Allgegenwärtige Visualisierungen etwa, die die Verbreitung von Tröpfchen und den kleineren Aerosolen demonstrieren. Damit auf einen Blick ersichtlich ist, welchen Schutz eng anliegende Stoffmasken über Mund und Nase bieten und welchen Gesichts- und Kinnvisiere.
Wer den Unterschied zwischen dem Ansteckungsrisiko in einem Fußballstadion mit 5000 Menschen (zugewiesene Plätze, kein enger Kontakt) und einer Demo mit 5000 Menschen (unkontrollierbare Menschenmengen) nicht versteht, verliert zwangsläufig das Vertrauen in die Entscheidungsträger.
Prominente Role Models wie etwa Musiker fehlen
Noch erstaunlicher ist, dass keinerlei zielgruppenorientierte Motivationsmaßnahmen gesetzt werden. Musiker zum Beispiel oder Sportler und Influencer, die als prominente Role Models Jugendliche, insbesondere junge Männer, auf die Einhaltung der wichtigsten Verhaltensregeln hinweisen und diese gewissermaßen nachahmenswert bzw. cool machen. Aber auch Personen aus erfolgreichen Regionen, die schildern, wie sie die Ausbreitung des Virus eingedämmt haben und mit welchen Freiheiten das nun verbunden ist.
„Es braucht Zwischenziele und Meilensteine als Antrieb“, sagt Molnar. Sie müssten definiert und regelmäßig „mit Witz, Humor und Originalität“thematisiert werden, um die Bevölkerung daran zu erinnern, warum die von ihnen geforderten Entbehrungen notwendig waren bzw. sind und dass sie selbst davon profitieren werden. Diese Kommunikation dürfe aber nicht auf Pressekonferenzen mit den zuständigen Ministern beschränkt sein, die anfangs wohl aus der Not und wegen Überforderung mit einer nie da gewesenen Situation entstanden und später nach hohen Zustimmungswerten aus der Bevölkerung geblieben seien.
Allzu viel ist von dieser Zustimmung aber nicht übrig. Als Aktionismus und Selbstdarstellung werden die Auftritte der Regierung kritisiert. Auch Konflikte innerhalb der Koalition haben ihre Glaubwürdigkeit beschädigt.
Und wie wichtig Glaubwürdigkeit bei der Vermittlung von Botschaften ist, zeigte vor ein paar Wochen der Versuch von Kanzler Sebastian Kurz, die Bevölkerung mit der Aussicht auf ein normales Leben im kommenden Sommer („Licht am Ende des Tunnels“) ein letztes Mal auf die Einhaltung der Vorgaben einzuschwören. Die als Befreiungsschlag geplante Motivationsrede verfehlte ihre Wirkung, obwohl sie hinsichtlich Inhalt und Timing perfekt gewesen wäre.
AUF EINEN BLICK
Kommunikation. Beim Krisenmanagement der Regierung wurden schwerwiegende Fehler gemacht, sagt die auf Gesundheitspsychologie spezialisierte Psychologin Martina Molnar aus Wien. Das umfassende Informieren der Bevölkerung hätte in viel höherem Ausmaß Gesundheitsexperten überlassen werden sollen. Darüber hinaus sei zu sehr auf Angst statt Aufklärung gesetzt worden.