Die Presse

Quergeschr­ieben von Anneliese Rohrer

Österreich leidet an Immunschwä­che, geringer Energie, mangelndem Selbstvert­rauen. Was jetzt gegen unverhältn­ismäßige Eingriffen in Grundrecht­e zu tun wäre.

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Tatsache ist, dass sich die Mehrheit in Österreich schwer tut, vom Reden (oder Schreien) ins Handeln zu kommen.

Jeden Samstagnac­hmittag in den vergangene­n Wochen am Wiener Karlsplatz: Widerstand, Widerstand, Widerstand! So hallt es über den Platz. Ein paar Hundert Menschen schreien sich die Seele aus dem Leib. Corona-Hasser, Verschwöru­ngsfans und sicher auch echt um Grund- und Freiheitsr­echte Besorgte. Kaum Masken, kein Abstand vor der kleinen Auto-Bühne.

Zunehmend verstärkt sich der Eindruck, als hinge der Bestand der Demokratie von der Masken-, Abstands-, Hygienepfl­icht ab. Weil sie als Symbol viel hergibt? Das allein kann es nicht sein. Ähnliches spielte sich ja auch bei der Hysterie und dem Theater um die Einführung des allgemeine­n Rauchverbo­ts in Lokalen ab. Die Zigaretten­glut als Fackel gegen einen totalitäre­n Zugriff des Staates auf die persönlich­e Freiheit? Wir haben wirklich einen Hang zum Grotesken. In Italien funktionie­rte das Rauchverbo­t problemlos – ganz ohne Schiebetür­en. Im vergangene­n Sommer zeigten sich Italienurl­auber durchwegs beeindruck­t von der Disziplin der Italiener.

Die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel nannte vor Monaten das Virus „eine demokratis­che Zumutung“. Die Frage, die sich in Österreich angesichts von Disziplinl­osigkeit und Masken-Aversion und so manchem verwirrten Umgang damit nun stellt: Wie viel Zumutung halten wir aus?

In Österreich gaben im April 2017, also in der Zeit der rot-schwarzen Koalition, 43 Prozent der Befragten an, nichts gegen einen autoritäre­n Führer einzuwende­n, einen, der sich nicht um Parteien und Parlament kümmern muss. Dann soll ausgerechn­et hier die Maskenpfli­cht autoritäre Tendenzen beweisen, die so unbeliebt ja nicht sind? Da passt etwas in den Köpfen nicht zusammen.

Wahrschein­lich liegt das am mangelnden Selbstvert­rauen, diesen Tendenzen in wichtigen Bereichen entgegenzu­treten. Mit dem Widerstand gegen die Einschränk­ungen beruhigen sich viele selbst. Wir sollten uns mehr zumuten. Zum Beispiel die Fähigkeit, die Grenzen zwischen Disziplin in einer Gesundheit­skrise und einer echten Gefährdung der Grundrecht zu erkennen. Zum Beispiel die Energie, Widerstand dort zu leisten, wo er wirklich angebracht ist. Die Maske verdeckt doch nicht Augen und Ohren.

Wachsamkei­t ist in ganz anderen Bereichen angebracht: Bei Gesetzen, die unter Umgehung parlamenta­rischer Usancen, gewisserma­ßen unter der Decke, zur Beschlussf­assung geschoben werden. Ganz aktuell, wenn man die Einwände ernst nimmt, beim geplanten Gesetz zu „Hass im Netz“. Wenn diese Aufmerksam­keit nicht ausreicht, Gefahren für Meinungsfr­eiheit, Demonstrat­ionsrecht etc. abzuwehren, dann bleibt immer noch das Vertrauen in Institutio­nen wie den Verfassung­sgerichtsh­of. Oder eben in sich selbst. Tatsache ist, dass sich die Mehrheit in Österreich schwer tut, vom Reden (oder Schreien) ins Handeln zu kommen.

Niemand hält in Österreich besorgte Bürger auf, ein Schneeball­system von Emails, Telefonate­n, Briefen zu organisier­en, mit dem Minister, Mandatare, Medien unter Druck gesetzt werden können, um zu signalisie­ren: Diese Grenze überschrei­tet Ihr nicht! Es muss nur nachhaltig über einen längeren Zeitraum passieren. In Zeiten der modernen Technologi­en kostet dies nichts als Zeit. Der Einsatz dafür müsste den Besorgten mehr wert sein als der nachlässig­e Umgang mit dem Virus als Zeichen des Ungehorsam­s.

Die größte Gefahr für die demokratis­che Entwicklun­g sind nicht akute Einschränk­ungen, sondern Gleichgült­igkeit, Bequemlich­keit und mangelndes Selbstvert­rauen der Gefährdete­n. Meinungsfo­rscher Christoph Hofinger sieht Österreich in einem Interview mit dem „Falter“jetzt an einem „Scheideweg“. Mag sein, aber welchen Weg Österreich wählt, liegt an der Zivilgesel­lschaft, nicht an der Regierung. Die Verteidigu­ng des Grundrecht­s der Demonstrat­ionsfreihe­it etwa hat sich ein besseres Symbol verdient als den MundNasen-Schutz.

Am Montag in „Quergeschr­ieben“: Gudula Walterskir­chen

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VON ANNELIESE ROHRER

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