Kein Tipi weit und breit.
Briefe an Amalia: eine Baustelle neben dem Bett und was ein Dreieck bedeuten kann.
„Briefe an Amalia“: eine Baustelle neben dem Bett, was ein Dreieck bedeuten kann und wie man lesen soll. Von Clemens Berger.
Wenn ich unterwegs bin, ist das Erste, was ich beim Aufwachen in mir sehe, Dein Gesicht. Dann sehe ich Dich lachen, und die beiden unteren Zähne leuchten, ich sehe Deine blitzenden blauen Augen und Deine Abenteuerlust, sehe Dich im Sandkasten und auf der Schaukel, wie Du den Kopf nach hinten wirfst und jauchzt. Ich sehe immer das, was Dir am besten gefiel, als ich aufbrach, und das ist derzeit ein Finger, den man an einen Nasenflügel legt, oder die ausgestreckten Zeigefinger, die einander berühren und ein Dreieck bilden. Beides amüsiert Dich außerordentlich. Auch wenn ich gestehen muss, dass es wunderbar ist, hin und wieder eine Nacht in einem Hotelzimmer durchschlafen zu können, fehlst Du mir. Ich habe gehört, dass Du Dada rufst, wenn Du aufwachst und mich nicht im Bett siehst.
Wenn man mich auf meiner Präsidentenlesereise fragt, ob ich an einem neuen Roman schriebe, muss ich lachen. Oft ist es schon schwierig, meine Briefe an Dich zu schreiben. Ich habe eine vierzehn Monate alte Tochter, sage ich dann, was heißt, dass die wenige Zeit, die zum Schreiben bliebe, meistens mit großer Müdigkeit einhergeht. Außerdem haben wir seit Monaten eine Baustelle direkt unter uns. Um sieben Uhr morgens geht es los, es ist, als stünden die Pressluftbohrer neben unserem Bett. Weil man bis Jahresende fertig sein will, gibt es keine Mittagspausen, auch samstags wird gebohrt und gestemmt, so dass Du oft um Deinen Mittagsschlaf kommst. Wenn es unerträglich wird, geht Deine Mutter nach unten und bittet die Arbeiter, zumindest eine Stunde zu pausieren.
Die letzte Reise führte mich nach Weißenburg in Bayern, unserem Zweitwohnsitz in diesem Jahr. Vor der Lesung traf ich unsere Freunde in einem Supermarkt. In der Werbung vor dem Eingang sah ich ein Tipi für Kinder. Weil mir auf einmal klar war, dass Du mit den beiden einander berührenden Zeigefingern, die ein Dreieck bilden, ein Zelt zum Spielen meinst, lief ich zu den Angeboten, um eines für Dich zu ergattern.
Weit und breit kein Tipi
Ich sah mich schon mit einem wunderbaren Geschenk nach Hause kommen. Ich sah Deine Freude und Dich im Zelt sitzen und einen Finger an den Nasenflügel legen. Natürlich, dachte ich, sind die guten Sachen immer sofort ausverkauft; weit und breit war kein Tipi für Kinder zu sehen. Auf der Fahrt zum Veranstaltungsort verriet mir unsere Freundin, dass man an der Kasse melden könne, wenn es ein Angebot nicht mehr gebe, dann bekomme man einen Bon und könne es online versandkostenfrei bestellen. Ich drehte um.
Während Du zu gehen beginnst, fällt Deinem Vater das Gehen immer schwerer. Sein Knie muss demnächst operiert werden, an manchen Tagen kann er nicht einmal seinen linken Socken selbst anziehen. Vielleicht hängt das auch mit unseren langen Spaziergängen zusammen, als ich Dich umgehängt hatte. Du bist zwar nicht schwer; leichter wirst Du aber nicht. Die Hoffnung auf das Zelt ließ mich dennoch zum Supermarkt humpeln. Aufgeregt fragte ich eine Angestellte, ob das Kinderzelt ausverkauft sei. Sie sah mich ratlos an. Aus der Werbung! Ach so, meinte sie, das sei immer Werbung für die Zukunft. Ich müsse nur lesen.
Lesereise, dachte ich vor der Werbung, der ich entnahm, dass es das Zelt erst in neun Tagen geben werde, heißt ja nur, dass ich vorlese – und nicht notgedrungen, dass ich lesen kann. Ich humpelte zum Veranstaltungsort zurück. Unsere Freundin wird das Zelt besorgen. Wenn wir im November nach Weißenburg zurückkehren, wirst Du mit in die Höhe gestreckten Armen in Dein Zelt wackeln.