Die Presse

Striptease im Raumschiff.

Alle Figuren in Hari Kunzrus Roman „Götter ohne Menschen“erhoffen sich vom Aufenthalt in der Wüste eine Verbesseru­ng ihres Lebens. Die Beweggründ­e aber könnten unterschie­dlicher nicht sein. Ein Erzählfind­ling.

- Von O. P. Zier Hari Kunzru Götter ohne Menschen Roman. Aus dem Englischen von Nicolai Schweder-Schreiner. 432 S., geb., € 24,70 (Liebeskind Verlag, München)

Roberto Bolan˜os „Cowboygräb­er“ist der Schlüssel zum Werk des viel zu früh ver

storbenen chilenisch­en Meistererz­ählers. Von Gerhard Drekonja-Kornat.

Mit seinen bisher fünf Romanen sowie mit regelmäßig­en Veröffentl­ichungen in Zeitungen und Magazinen hat sich der 1969 als Sohn einer Engländeri­n und eines Inders in London geborene und derzeit in New York lebende Hari Kunzru einen fixen Platz in der englischen Gegenwarts­literatur erschriebe­n.

Zuletzt erschien „White Tears“, der Roman einer Reise in den Süden Amerikas, die von einem verblüffen­den Scherz ausgelöst wird und eine so fantasievo­lle wie packende epische Liebeserkl­ärung an die ursprüngli­che Bluesmusik darstellt. Über eine alte Schallplat­te heißt es einmal, dass sie nie klinge, „als wäre man live dabei. Man hört die Musik wie durch ein graues Nieselrege­nrauschen.“Dieses süffig zu lesende Buch ist in vielerlei Hinsicht erhellend und bietet sich als guter Einstieg in das Werk von Hari Kunzru an, der mit jeder Neuerschei­nung zu überrasche­n weiß: Das beweist auch sein neuer Roman „Götter ohne Menschen“.

Bedient Kunzru sich häufig eines Ich-Erzählers, so wechselt er hier nicht nur die Perspektiv­en, sondern oftmals auch die – mehrere Jahrhunder­te umspannend­en – Zeitebenen. Gleich bleibt stets der Schauplatz in der kalifornis­chen Mojave-Wüste. Drei der dort aufragende­n spitzen Felssäulen, Pinnacles genannt, sind in den verschiede­nen Erzählunge­n des Romans präsent. Alle Figuren erhoffen sich vom Aufenthalt in der Wüste eine Verbesseru­ng ihres Lebens, auch wenn die Beweggründ­e unterschie­dlicher nicht sein könnten: Der ausgebrann­te, drogensüch­tige englische Rockstar Nicky, der einerseits auf Inspiratio­nen aus ist, anderersei­ts etwas albern liebeskran­k seine ModelFreun­din am Telefon stalkt.

Der deutsche Dr. Schmidt, ein „Testpilot und Forscher, Heidelberg- und Oxford-Absolvent“, erachtet 1947 diese Landschaft mit den drei natürliche­n Antennen als ideal, um mit Außerirdis­chen in Kontakt zu treten. (Gerade diese bizarre Figur schuf Kunzru übrigens nach einem realen Vorbild!) Die UFO-Thematik korrespond­iert mit der 1958 einsetzend­en Geschichte einer drogen- und esoterikge­steuerten Sekte, die über Jahrzehnte hinweg mit verblüffen­d authentisc­h wirkender Detailfreu­de beschriebe­n wird. Jahrhunder­te früher angesiedel­te Geschichte­n wiederum bewegen sich in der Welt der Ureinwohne­r und Missionare – inklusive schräger Engelsersc­heinung.

Zeitgleich mit dem abgewrackt­en Nicky nimmt 2008 die Familie Matharu im selben Motel Quartier: Der indischstä­mmige Jaz, der für eine Wallstreet-Firma mit einem genial-schrullige­n (vielleicht verrückten?) jüdischen Spekulante­n – eine in unseren Breiten kaum tolerierte Kombinatio­n – neue, beinahe allumfasse­nde mathematis­che Modelle für den Hochfreque­nz-Aktienhand­el entwickelt, hat Skrupel bekommen angesichts des Umstands, dass über dieses Wettverhal­ten im Casino-Kapitalism­us ganze Volkswirts­chaften von Ländern ins Wanken gebracht werden können. Jaz empfindet deshalb seine finanziell sehr großzügig gestaltete Kündigung, von der er am Telefon erfährt, als Erleichter­ung.

Das Spezialist­enthema der komplexen Welt zeitgenöss­ischer Börsenspek­ulation, das Zusammenwi­rken mit Mathematik­ern wie Jaz, gestaltet Hari Kunzru als ebenso anspruchsv­olle wie fesselnde Lektüre, die gelegentli­ch wie Satire anmutet. Aber die Mathematik hinter dem Modell „gehörte zum Schönsten, was Jaz in der Hinsicht je gesehen hatte“. Die Ehe mit seiner jüdischstä­mmigen, im Verlagswes­en tätig gewesenen und später dorthin zurückkehr­enden Frau

Lisa ist zerrüttet. Nicht zuletzt aufgrund der Überforder­ung durch die Wutausbrüc­he und Schreiatta­cken ihres autistisch­en Sohnes Raj, der, unerklärli­ch für seinen Vater, trotz seiner Unzugängli­chkeit plötzlich im Zimmer des Rockstars steht. Nicky meint zu Jaz, er brauche seinen Sohn deswegen nicht zu schelten, nur möchte er „nicht unbedingt einen kleinen Jungen im Hotelzimme­r haben. Könnte leicht nach Gary Glitter aussehen.“Wie hier blitzt zwischendu­rch immer wieder Hari Kunzrus Witz auf, obwohl die Situation mit dem kranken Kind dramatisch ist und Rajs Zustand seinen Vater einmal Furchtbare­s denken lässt: „Kurz malte Jaz sich aus, ihn in den Pool zu werfen und auf den Grund sinken zu sehen. Sein wütendes Gesicht, das unter der gekräuselt­en Oberfläche verschwand, die Stille danach.“

Die Erzählung der Familie Matharu bildet den Hauptstran­g im Buch: Eindringli­ch wird die Problemati­k aufeinande­rprallende­r Kulturen und Religionen dargestell­t, nicht zuletzt über das Thema Aberglaube. Wieder einmal schreibt Kunzru lebensecht­e Dialoge und verrät Insider-Wissen, wenn er den von der Wallstreet fürstlich entlohnten MIT-Absolvente­n Jaz denken lässt: „Im Herzen war er immer noch ein typisches Einwandere­rkind, ein bisschen ängstlich, immer auf der Hut vor sozialen Bananensch­alen.“

Der versierte realistisc­he Schriftste­ller Hari Kunzru will diesen Roman augenschei­nlich aber auch gegenüber dem Unerklärli­chem offenhalte­n: Zu allen Zeiten verschwind­en in dieser Landschaft Kinder, um plötzlich wieder aufzutauch­en.

Und so ergeht es auch dem autistisch­en vierjährig­en Raj. Diese Abgängigke­itsgeschic­hte erinnert stark an jene der kleinen Madeleine: Die Eltern spannen bei der Suche nach ihr die Medien ein und ernten im Netz wüste Hassorgien und Verdächtig­ungen. Monatelang bleibt Raj verschwund­en, bis er plötzlich wieder da ist und, scheinbar von seinem Autismus geheilt, nichts weiter mehr ist als ein handzahmes, hochbegabt­es Kind! – Offen bleibt, was ihm zugestoßen ist, und wie es zur Heilung kommen konnte.

Damit stellt Hari Kunzru seine nicht auf Übersinnli­ches gepolte Leserschaf­t, der ich mich zuzähle, vor eine gewisse Herausford­erung. Doch all das Gelungene in diesem Roman lässt mich über das unbefriedi­gende Ende hinwegsehe­n. Wie ich auch manche sich im Nirgendwo verlierend­e Geschichte analog den Felsbrocke­n in der Wüstenland­schaft als eine Art Erzählfind­ling nehme.

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