Striptease im Raumschiff.
Alle Figuren in Hari Kunzrus Roman „Götter ohne Menschen“erhoffen sich vom Aufenthalt in der Wüste eine Verbesserung ihres Lebens. Die Beweggründe aber könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein Erzählfindling.
Roberto Bolan˜os „Cowboygräber“ist der Schlüssel zum Werk des viel zu früh ver
storbenen chilenischen Meistererzählers. Von Gerhard Drekonja-Kornat.
Mit seinen bisher fünf Romanen sowie mit regelmäßigen Veröffentlichungen in Zeitungen und Magazinen hat sich der 1969 als Sohn einer Engländerin und eines Inders in London geborene und derzeit in New York lebende Hari Kunzru einen fixen Platz in der englischen Gegenwartsliteratur erschrieben.
Zuletzt erschien „White Tears“, der Roman einer Reise in den Süden Amerikas, die von einem verblüffenden Scherz ausgelöst wird und eine so fantasievolle wie packende epische Liebeserklärung an die ursprüngliche Bluesmusik darstellt. Über eine alte Schallplatte heißt es einmal, dass sie nie klinge, „als wäre man live dabei. Man hört die Musik wie durch ein graues Nieselregenrauschen.“Dieses süffig zu lesende Buch ist in vielerlei Hinsicht erhellend und bietet sich als guter Einstieg in das Werk von Hari Kunzru an, der mit jeder Neuerscheinung zu überraschen weiß: Das beweist auch sein neuer Roman „Götter ohne Menschen“.
Bedient Kunzru sich häufig eines Ich-Erzählers, so wechselt er hier nicht nur die Perspektiven, sondern oftmals auch die – mehrere Jahrhunderte umspannenden – Zeitebenen. Gleich bleibt stets der Schauplatz in der kalifornischen Mojave-Wüste. Drei der dort aufragenden spitzen Felssäulen, Pinnacles genannt, sind in den verschiedenen Erzählungen des Romans präsent. Alle Figuren erhoffen sich vom Aufenthalt in der Wüste eine Verbesserung ihres Lebens, auch wenn die Beweggründe unterschiedlicher nicht sein könnten: Der ausgebrannte, drogensüchtige englische Rockstar Nicky, der einerseits auf Inspirationen aus ist, andererseits etwas albern liebeskrank seine ModelFreundin am Telefon stalkt.
Der deutsche Dr. Schmidt, ein „Testpilot und Forscher, Heidelberg- und Oxford-Absolvent“, erachtet 1947 diese Landschaft mit den drei natürlichen Antennen als ideal, um mit Außerirdischen in Kontakt zu treten. (Gerade diese bizarre Figur schuf Kunzru übrigens nach einem realen Vorbild!) Die UFO-Thematik korrespondiert mit der 1958 einsetzenden Geschichte einer drogen- und esoterikgesteuerten Sekte, die über Jahrzehnte hinweg mit verblüffend authentisch wirkender Detailfreude beschrieben wird. Jahrhunderte früher angesiedelte Geschichten wiederum bewegen sich in der Welt der Ureinwohner und Missionare – inklusive schräger Engelserscheinung.
Zeitgleich mit dem abgewrackten Nicky nimmt 2008 die Familie Matharu im selben Motel Quartier: Der indischstämmige Jaz, der für eine Wallstreet-Firma mit einem genial-schrulligen (vielleicht verrückten?) jüdischen Spekulanten – eine in unseren Breiten kaum tolerierte Kombination – neue, beinahe allumfassende mathematische Modelle für den Hochfrequenz-Aktienhandel entwickelt, hat Skrupel bekommen angesichts des Umstands, dass über dieses Wettverhalten im Casino-Kapitalismus ganze Volkswirtschaften von Ländern ins Wanken gebracht werden können. Jaz empfindet deshalb seine finanziell sehr großzügig gestaltete Kündigung, von der er am Telefon erfährt, als Erleichterung.
Das Spezialistenthema der komplexen Welt zeitgenössischer Börsenspekulation, das Zusammenwirken mit Mathematikern wie Jaz, gestaltet Hari Kunzru als ebenso anspruchsvolle wie fesselnde Lektüre, die gelegentlich wie Satire anmutet. Aber die Mathematik hinter dem Modell „gehörte zum Schönsten, was Jaz in der Hinsicht je gesehen hatte“. Die Ehe mit seiner jüdischstämmigen, im Verlagswesen tätig gewesenen und später dorthin zurückkehrenden Frau
Lisa ist zerrüttet. Nicht zuletzt aufgrund der Überforderung durch die Wutausbrüche und Schreiattacken ihres autistischen Sohnes Raj, der, unerklärlich für seinen Vater, trotz seiner Unzugänglichkeit plötzlich im Zimmer des Rockstars steht. Nicky meint zu Jaz, er brauche seinen Sohn deswegen nicht zu schelten, nur möchte er „nicht unbedingt einen kleinen Jungen im Hotelzimmer haben. Könnte leicht nach Gary Glitter aussehen.“Wie hier blitzt zwischendurch immer wieder Hari Kunzrus Witz auf, obwohl die Situation mit dem kranken Kind dramatisch ist und Rajs Zustand seinen Vater einmal Furchtbares denken lässt: „Kurz malte Jaz sich aus, ihn in den Pool zu werfen und auf den Grund sinken zu sehen. Sein wütendes Gesicht, das unter der gekräuselten Oberfläche verschwand, die Stille danach.“
Die Erzählung der Familie Matharu bildet den Hauptstrang im Buch: Eindringlich wird die Problematik aufeinanderprallender Kulturen und Religionen dargestellt, nicht zuletzt über das Thema Aberglaube. Wieder einmal schreibt Kunzru lebensechte Dialoge und verrät Insider-Wissen, wenn er den von der Wallstreet fürstlich entlohnten MIT-Absolventen Jaz denken lässt: „Im Herzen war er immer noch ein typisches Einwandererkind, ein bisschen ängstlich, immer auf der Hut vor sozialen Bananenschalen.“
Der versierte realistische Schriftsteller Hari Kunzru will diesen Roman augenscheinlich aber auch gegenüber dem Unerklärlichem offenhalten: Zu allen Zeiten verschwinden in dieser Landschaft Kinder, um plötzlich wieder aufzutauchen.
Und so ergeht es auch dem autistischen vierjährigen Raj. Diese Abgängigkeitsgeschichte erinnert stark an jene der kleinen Madeleine: Die Eltern spannen bei der Suche nach ihr die Medien ein und ernten im Netz wüste Hassorgien und Verdächtigungen. Monatelang bleibt Raj verschwunden, bis er plötzlich wieder da ist und, scheinbar von seinem Autismus geheilt, nichts weiter mehr ist als ein handzahmes, hochbegabtes Kind! – Offen bleibt, was ihm zugestoßen ist, und wie es zur Heilung kommen konnte.
Damit stellt Hari Kunzru seine nicht auf Übersinnliches gepolte Leserschaft, der ich mich zuzähle, vor eine gewisse Herausforderung. Doch all das Gelungene in diesem Roman lässt mich über das unbefriedigende Ende hinwegsehen. Wie ich auch manche sich im Nirgendwo verlierende Geschichte analog den Felsbrocken in der Wüstenlandschaft als eine Art Erzählfindling nehme.