Aschenputtel an der Themse
Großbritannien. Brexit und Corona haben internationale Investoren aus Großbritannien vertrieben. Die Situation gleicht einem Teufelskreis, sagen Experten. Ist nun die Zeit für eine Neubewertung gekommen?
London. Die Londoner Börse eröffnete das Jahr 2020 bei 7542 Punkten. Mit dem Ausbruch der Coronakrise im Februar kollabierte der Aktienindex FTSE 100 um 25 Prozent. Allen voran Blue Chips waren dafür verantwortlich: Der Energiekonzern Shell musste erstmals seit 1943 seine Dividende kürzen, die Aktie des Konkurrenten BP befindet sich bis heute auf dem tiefsten Stand seit 25 Jahren. Den vier führenden Banken des Landes wurde von der Aufsicht „empfohlen“, statt Ausschüttungen an ihre Aktionäre vorzunehmen, besser die Risikovorsorge zu erhöhen.
Für den britischen Kapitalmarkt wurde die Coronakrise zum Offenbarungseid: Der FTSE-100-Index ist dominiert von Banken, Energiekonzernen, Luftlinien und Bergbaukonzernen. Anleger setzen hier nicht auf Innovation, sondern warten auf Dividenden. Es ist ein Spiegelbild der Welt von gestern. Die Wirkung war aber deshalb so verheerend, weil Investoren noch einen zweiten Grund zur Sorge haben: Seit das Land 2016 für den Brexit stimmte, haben Anleger bis Sommer 2020 fast 13 Mil- liarden Pfund (14,4 Mrd. Euro) abgezogen.
Selbst die Briten sind verunsichert: 2003 hatten heimische
Anleger ihr
Geld zu 40 Prozent in britischen Werten, im Juni 2020 nur noch zu 14 Prozent. „Politische Entscheidungen wie der Brexit schaffen Volatilität, und das schlägt sich auf die Investoren nieder“, sagt Susannah Streeter vom Finanzdienstleister Hargreaves Lansdown zur „Presse“. „Britische Aktien mit Fokus auf das Inlandsgeschäft bleiben zurück.“Umgekehrt hat nicht einmal der massive Kursver- lust des Pfund seit dem Brexit-Refe
rendum die Attraktivität des
Marktes erhöht: Laut „Investment Association“fiel der
Anteil des britischen Portfolios unter internationalen Anlegern in den letzten Jahren um 18 Punkte. Wenige Tage vor Ablauf einer neuen Frist für eine Post-Brexit-Vereinbarung sagt Richard Buxton von Jupiter Asset Management: „Klarheit würde helfen, sich aber in Wirklichkeit nur dann positiv niederschlagen, wenn es zu einem Deal kommt.“
Ausweg aus dem Teufelskreis?
Während Konkurrenten wie der US-Index S&P 500 sich der Nachfrage nach den begehrten Tech-Aktien kaum erwehren können, kommt der FTSE 100 nicht auf die Beine und pendelt um die 6000 Punkte. Im September hatte allein Apple einen höheren Börsenwert als alle FTSE-100-Firmen zusammen. „Die Börsenperformance spiegelt teilweise wider, wie sehr die Coronakrise die britische Wirtschaft getroffen hat“, sagt Buxton. Die „falschen“Aktien an der Leitbörse, eine schwer angeschlagene Wirtschaft und die Unsicherheit des Brexit? „Wir sind in einem Teufelskreis“, meint Richard Colwell vom Investmentfonds Columbia Threadneedle.
Doch wo die einen klagen, sehen andere Chancen. Schon bei Aschenputtel heißt es: „Die guten ins Töpfchen/die schlechten ins Kröpfchen.“Unter Fondsmanagern setzt sich die Meinung durch, dass britische Werte, gerade unterhalb der Großunternehmen, „spottbillig“seien, wie etwa David Stevenson meint. Sein Fonds Amati ist auf Mittelbetriebe spezialisiert, die im FTSE-250-Index notiert sind. Sie verzeichneten zuletzt den besten Stand seit zwei Monaten: „Viele Manager beginnen nun, diesen Moment als Chance zu begreifen, sich gute Betriebe zum Angebotspreis zu schnappen“, meint Ryan Hughes von der Investmentplattform AJ Bell.
Aussichtsreiche Branchen und Firmen
Drei Fonds mit britischen Mid-Caps im Visier wurden seit September lanciert: Der UK Buffettology Smaller Companies Trust will sich an Börsenguru Warren Buffett orientieren und in bis zu 50 Unternehmen zwischen 20 und 500 Millionen Pfund langfristig investieren. Der Schroder British Opportunities Trust will bis zu 250 Millionen Pfund mobilisieren. Der Tellworth British Recovery and Growth Trust wollte sogar 500 Millionen Pfund für unterbewertete innovative Unternehmen aufzutreiben. Vor einer Woche musste der Fonds freilich das Handtuch werfen: „Die Nachfrage war nicht ausreichend.“
Unter Einzelfirmen raten Fondsmanager neben Zukunftsbranchen wie Tech, Pharma und Biotech auch zu Grundversorgern etwa im Bereich Gesundheit. Lansdown nennt den Diskontnahversorger B&M European Value Retail, den Baumarktbetreiber Kingfisher, die Finanztechfirma Experian und den Ordinationsbetreiber Primary Health Properties. Hier könnten Anleger darauf hoffen, dass Aschenputtels Traum wahr wird: „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich/ wirf Gold und Silber über mich.“