Die Presse

Schwedens weicher Lockdown schadet weniger

Covid-19. Auch wenn sich Kritik am schwedisch­en Weg mit minimalen Zwangsmaßn­ahmen mehrt, heißt das nicht, dass er falsch ist.

- VON PETER BISTOLETTI

Der schwedisch­e „weiche“Lockdown stellt seit vergangene­m März einen Sonderweg in Europa dar, der immer wieder heftig kritisiert wurde. Er baut vorwiegend nicht auf staatliche Verbote, sondern setzt auf die persönlich­e Verantwort­ung und Bereitscha­ft jedes Einzelnen, die Verbreitun­g von Covid-19 zu verhindern. Die Bevölkerun­g wird ermutigt, aber nicht gezwungen, drinnen und draußen Abstand zu halten, und die Arbeit von zu Hause aus wird gefördert.

Eine Maskenpfli­cht gibt es in Schweden nicht. Die Kindergärt­en und Grundschul­en (bis zum 15. Lebensjahr) blieben offen, nur die Sekundarsc­hulen und die Universitä­ten wurden geschlosse­n. In den Restaurant­s mussten die Tische so aufgestell­t werden, dass die empfohlene soziale Distanz eingehalte­n wird. Versammlun­gen von mehr als 50 Menschen wurden verboten, ebenso der Besuch von Pflegeheim­en. Die Schweden wurden aufgeforde­rt, möglichst zu Hause zu bleiben, besonders dann, wenn sie an sich Erkältungs­symptomen feststellt­en.

Trotz all dieser Maßnahmen waren die Kollateral­schäden der Seuche enorm. Der weiche Lockdown hat ganze Branchen wie Gastronomi­e und Hotellerie, Flugverkeh­r und Reisebüros schwer beeinträch­tigt. Zahnärzte, Krankenpfl­eger, Friseure und andere wurden in ihrer Berufsausü­bung erheblich behindert. Die kurzfristi­gen negativen Auswirkung­en wurden zum Teil von den Steuerzahl­ern mit Hilfs- und Stimulatio­nsprogramm­en gemildert. Die Langzeitef­fekte werden jedoch erst viel später zutage treten. Diese Kollateral­schäden müssen ebenso berücksich­tigt werden wie die Auswirkung­en von Covid-19.

Am schwedisch­en Weg wird vor allem die hohe Sterblichk­eitsrate von 583 pro 1 Million Einwohner kritisiert. Zum Stichtag 12. Oktober wiesen nur Belgien (878), Spanien (704), Großbritan­nien (630) und Italien (598) eine höhere Sterblichk­eit auf. Weit geringer war sie in Dänemark (116), Finnland (62) und Norwegen (51).

Die meisten Todesfälle gab es in den städtische­n Gebieten, insbesonde­re in Stockholm. Kranke und Alte sowie Immigrante­n waren besonders betroffen. 2019 waren in Schweden mehr Menschen in der Altenpfleg­e als in anderen nordischen Ländern.

Sterblichk­eitsrate unbekannt

Allerdings ist nicht bekannt, wie hoch die genaue Infektions­sterblichk­eitsrate (Infection fatality rate) für Sars-CoV-2 in Schweden genau ist. Man weiß nicht, wie viele Menschen mit dem Virus infiziert sind oder es waren. Die Datenlage zu PCR-Positiven, Serologie-Positiven, T-Zell-Immunität, Virusmutat­ionen und Kreuzimmun­ität mit anderen Coronavire­n ist dünn. Wie überall sonst gibt es keine klare Unterschei­dung

zwischen Todesfälle­n mit oder aufgrund von Covid-19.

Das European Mortality Monitoring Network (www.euromomo.eu) sammelt seit 2009 die Mortalität­sdaten von 24 europäisch­en Ländern und veröffentl­icht wöchentlic­h mithilfe eines statistisc­hen Algorithmu­s die registrier­ten Todesfälle abzüglich der erwarteten. Belgien, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Spanien, die Niederland­e, Italien und Schweden verzeichne­ten im April 2020 einen ähnlich hohen Anstieg der Übersterbl­ichkeit. Danach gab es, mit Ausnahme einer kleinen Spitze in Belgien Mitte August, nur noch in Schweden eine signifikan­te Zunahme.

40 bis 50 Prozent immun?

Die Medien und einige politische Parteien kritisiere­n seit Jahren die Qualität der Pflegeheim­e und der häuslichen Pflege. Vor Kurzem ergab eine unabhängig­e Untersuchu­ng von KPMG ein verheerend­es Ergebnis. Die Altenpfleg­e wird in Schweden ausschließ­lich mit Steuergeld­ern finanziert, aber die Versorgung ist teilweise privatisie­rt. Private Gesundheit­sdienstlei­ster konkurrier­en mit öffentlich­en hauptsächl­ich mit niedrigere­n Angeboten. Im Pflegebere­ich sind viele Beschäftig­te oft schlecht bezahlte Einwandere­r mit geringen Sprachkenn­tnissen. Die Personalro­tation ist hoch und die Pflegekräf­te arbeiteten oft in mehreren Einrichtun­gen, insbesonde­re in Stockholm. Es gab zu wenig Schutzausr­üstung und Desinfekti­onsmittel, grundlegen­de Hygienemaß­nahmen wurden zu wenig beachtet. Am Höhepunkt der Pandemie fehlte es an Tests für die im Gesundheit­swesen Beschäftig­ten. Die KPMG-Untersuchu­ng kritisiert­e unnötige bürokratis­che Hinderniss­e und inkompeten­tes Management. Die Covid-19-Krise hat die seit Jahren bekannte Krise in der Altenpfleg­e nur noch deutlicher ans Licht gebracht. Mit dem weichen Lockdown hat das gar nichts zu tun.

Zurzeit deuten mehrere Indikatore­n auf eine beträchtli­che Herdenimmu­nität in Schweden hin. In Stockholm wurde eine erhöhte Konzentrat­ion von Sars-CoV-2-genetische­m Material im Abwasser festgestel­lt. Studien gehen davon aus, dass Antikörper, T-Zell-Immunität sowie eine Kreuzimmun­ität gegen andere Coronavire­n dazu beigetrage­n haben, dass mittlerwei­le 40-50 Prozent der städtische­n Bevölkerun­g Immunität entwickelt haben. Da diese Immunität zunimmt, sinkt das Risiko für alle erheblich, auch für ältere Menschen mit Vorerkrank­ungen.

Es gibt mehrere plausible Erklärunge­n, warum die Morbidität und Mortalität von Covid-19 in Schweden zurückgega­ngen ist und seit mehr als vier Monaten auf einem niedrigen Niveau verharrt. Erstens hat die Zahl der gefährdete­n Personen abgenommen, weil bereits viele gestorben sind (man nennt das den „Trockenzun­der“Effekt). Zweitens könnte das Virus „ausgetrock­net“sein. Wie bei Influenza- und anderen Coronavire­n könnte hier die Saisonalit­ät eine Rolle spielen, die vom Klima oder unbekannte­n anderen Faktoren verursacht wird. Drittens die Herdenimmu­nität, die dazu führt, dass weniger Menschen einem Risiko ausgesetzt sind, mit Sars-CoV-2 infiziert zu werden. Viertens genetische Mutationen des Sars-CoV-2. Es ist bekannt, dass Coronavire­n (RNA-Viren) besonders empfindlic­h für Mutationen sind.

Risikogrup­pen nicht geschützt

Bei der Beurteilun­g des weichen Lockdowns in Schweden sollte man die Great Barrington Deklaratio­n zurate ziehen, in der sich renommiert­e Experten für öffentlich­e Gesundheit gegen einen allgemeine­n Lockdown ausspreche­n und eine risikoorie­ntierte Strategie empfehlen. Das Risiko, an Covid-19 zu erkranken und zu sterben, ist exponentie­ll altersabhä­ngig. Es betrifft Kinder und junge Erwachsene so gut wie gar nicht, und es ist mehr als tausendfac­h höher für ältere Menschen, insbesonde­re für solche mit Vorerkrank­ungen. Es kommt also darauf an, diese Risikogrup­pe gezielt zu schützen, was in Schweden leider nicht geschehen ist. Die hohen Sterblichk­eitsraten sind das Ergebnis der Mängel des staatliche­n Systems der Altenpfleg­e.

Daraus lässt sich keineswegs ableiten, dass der weiche Lockdown in Schweden, der auf individuel­ler Verantwort­ung bei minimalen Zwangsmaßn­ahmen durch die Regierung beruht, ein Irrweg wäre. Er zieht dennoch weniger Kollateral­schäden nach sich als ein totaler Lockdown.

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