Schwedens weicher Lockdown schadet weniger
Covid-19. Auch wenn sich Kritik am schwedischen Weg mit minimalen Zwangsmaßnahmen mehrt, heißt das nicht, dass er falsch ist.
Der schwedische „weiche“Lockdown stellt seit vergangenem März einen Sonderweg in Europa dar, der immer wieder heftig kritisiert wurde. Er baut vorwiegend nicht auf staatliche Verbote, sondern setzt auf die persönliche Verantwortung und Bereitschaft jedes Einzelnen, die Verbreitung von Covid-19 zu verhindern. Die Bevölkerung wird ermutigt, aber nicht gezwungen, drinnen und draußen Abstand zu halten, und die Arbeit von zu Hause aus wird gefördert.
Eine Maskenpflicht gibt es in Schweden nicht. Die Kindergärten und Grundschulen (bis zum 15. Lebensjahr) blieben offen, nur die Sekundarschulen und die Universitäten wurden geschlossen. In den Restaurants mussten die Tische so aufgestellt werden, dass die empfohlene soziale Distanz eingehalten wird. Versammlungen von mehr als 50 Menschen wurden verboten, ebenso der Besuch von Pflegeheimen. Die Schweden wurden aufgefordert, möglichst zu Hause zu bleiben, besonders dann, wenn sie an sich Erkältungssymptomen feststellten.
Trotz all dieser Maßnahmen waren die Kollateralschäden der Seuche enorm. Der weiche Lockdown hat ganze Branchen wie Gastronomie und Hotellerie, Flugverkehr und Reisebüros schwer beeinträchtigt. Zahnärzte, Krankenpfleger, Friseure und andere wurden in ihrer Berufsausübung erheblich behindert. Die kurzfristigen negativen Auswirkungen wurden zum Teil von den Steuerzahlern mit Hilfs- und Stimulationsprogrammen gemildert. Die Langzeiteffekte werden jedoch erst viel später zutage treten. Diese Kollateralschäden müssen ebenso berücksichtigt werden wie die Auswirkungen von Covid-19.
Am schwedischen Weg wird vor allem die hohe Sterblichkeitsrate von 583 pro 1 Million Einwohner kritisiert. Zum Stichtag 12. Oktober wiesen nur Belgien (878), Spanien (704), Großbritannien (630) und Italien (598) eine höhere Sterblichkeit auf. Weit geringer war sie in Dänemark (116), Finnland (62) und Norwegen (51).
Die meisten Todesfälle gab es in den städtischen Gebieten, insbesondere in Stockholm. Kranke und Alte sowie Immigranten waren besonders betroffen. 2019 waren in Schweden mehr Menschen in der Altenpflege als in anderen nordischen Ländern.
Sterblichkeitsrate unbekannt
Allerdings ist nicht bekannt, wie hoch die genaue Infektionssterblichkeitsrate (Infection fatality rate) für Sars-CoV-2 in Schweden genau ist. Man weiß nicht, wie viele Menschen mit dem Virus infiziert sind oder es waren. Die Datenlage zu PCR-Positiven, Serologie-Positiven, T-Zell-Immunität, Virusmutationen und Kreuzimmunität mit anderen Coronaviren ist dünn. Wie überall sonst gibt es keine klare Unterscheidung
zwischen Todesfällen mit oder aufgrund von Covid-19.
Das European Mortality Monitoring Network (www.euromomo.eu) sammelt seit 2009 die Mortalitätsdaten von 24 europäischen Ländern und veröffentlicht wöchentlich mithilfe eines statistischen Algorithmus die registrierten Todesfälle abzüglich der erwarteten. Belgien, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Spanien, die Niederlande, Italien und Schweden verzeichneten im April 2020 einen ähnlich hohen Anstieg der Übersterblichkeit. Danach gab es, mit Ausnahme einer kleinen Spitze in Belgien Mitte August, nur noch in Schweden eine signifikante Zunahme.
40 bis 50 Prozent immun?
Die Medien und einige politische Parteien kritisieren seit Jahren die Qualität der Pflegeheime und der häuslichen Pflege. Vor Kurzem ergab eine unabhängige Untersuchung von KPMG ein verheerendes Ergebnis. Die Altenpflege wird in Schweden ausschließlich mit Steuergeldern finanziert, aber die Versorgung ist teilweise privatisiert. Private Gesundheitsdienstleister konkurrieren mit öffentlichen hauptsächlich mit niedrigeren Angeboten. Im Pflegebereich sind viele Beschäftigte oft schlecht bezahlte Einwanderer mit geringen Sprachkenntnissen. Die Personalrotation ist hoch und die Pflegekräfte arbeiteten oft in mehreren Einrichtungen, insbesondere in Stockholm. Es gab zu wenig Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel, grundlegende Hygienemaßnahmen wurden zu wenig beachtet. Am Höhepunkt der Pandemie fehlte es an Tests für die im Gesundheitswesen Beschäftigten. Die KPMG-Untersuchung kritisierte unnötige bürokratische Hindernisse und inkompetentes Management. Die Covid-19-Krise hat die seit Jahren bekannte Krise in der Altenpflege nur noch deutlicher ans Licht gebracht. Mit dem weichen Lockdown hat das gar nichts zu tun.
Zurzeit deuten mehrere Indikatoren auf eine beträchtliche Herdenimmunität in Schweden hin. In Stockholm wurde eine erhöhte Konzentration von Sars-CoV-2-genetischem Material im Abwasser festgestellt. Studien gehen davon aus, dass Antikörper, T-Zell-Immunität sowie eine Kreuzimmunität gegen andere Coronaviren dazu beigetragen haben, dass mittlerweile 40-50 Prozent der städtischen Bevölkerung Immunität entwickelt haben. Da diese Immunität zunimmt, sinkt das Risiko für alle erheblich, auch für ältere Menschen mit Vorerkrankungen.
Es gibt mehrere plausible Erklärungen, warum die Morbidität und Mortalität von Covid-19 in Schweden zurückgegangen ist und seit mehr als vier Monaten auf einem niedrigen Niveau verharrt. Erstens hat die Zahl der gefährdeten Personen abgenommen, weil bereits viele gestorben sind (man nennt das den „Trockenzunder“Effekt). Zweitens könnte das Virus „ausgetrocknet“sein. Wie bei Influenza- und anderen Coronaviren könnte hier die Saisonalität eine Rolle spielen, die vom Klima oder unbekannten anderen Faktoren verursacht wird. Drittens die Herdenimmunität, die dazu führt, dass weniger Menschen einem Risiko ausgesetzt sind, mit Sars-CoV-2 infiziert zu werden. Viertens genetische Mutationen des Sars-CoV-2. Es ist bekannt, dass Coronaviren (RNA-Viren) besonders empfindlich für Mutationen sind.
Risikogruppen nicht geschützt
Bei der Beurteilung des weichen Lockdowns in Schweden sollte man die Great Barrington Deklaration zurate ziehen, in der sich renommierte Experten für öffentliche Gesundheit gegen einen allgemeinen Lockdown aussprechen und eine risikoorientierte Strategie empfehlen. Das Risiko, an Covid-19 zu erkranken und zu sterben, ist exponentiell altersabhängig. Es betrifft Kinder und junge Erwachsene so gut wie gar nicht, und es ist mehr als tausendfach höher für ältere Menschen, insbesondere für solche mit Vorerkrankungen. Es kommt also darauf an, diese Risikogruppe gezielt zu schützen, was in Schweden leider nicht geschehen ist. Die hohen Sterblichkeitsraten sind das Ergebnis der Mängel des staatlichen Systems der Altenpflege.
Daraus lässt sich keineswegs ableiten, dass der weiche Lockdown in Schweden, der auf individueller Verantwortung bei minimalen Zwangsmaßnahmen durch die Regierung beruht, ein Irrweg wäre. Er zieht dennoch weniger Kollateralschäden nach sich als ein totaler Lockdown.