Exponentiell? Wie in der Coronakrise gerechnet wird
Exponentielles Wachstum. Wie genau rechnen Wissenschaftler bei Pandemien? Und wie verändert Corona die gängigen Modelle?
Wien. „Das exponentielle Wachstum ist schwer vorzustellen für das menschliche Gehirn“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz vergangene Woche bei der Präsentation der schärferen Coronamaßnahmen. Vielleicht dachte er dabei ja an den 2013 verstorbenen Physiker Albert Bartlett, der einmal sagte: „Das größte Manko der menschlichen Rasse ist unsere Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen.“Die Legende über den Brahmanen Sissa ibn Dahir bringt das Problem auf den Punkt. Sie geht so: Für die Erfindung des Schachspiels versprach ihm der indische Herrscher Shihram ein Geschenk. Der Brahmane wünschte sich Reis, ein Korn auf dem ersten Feld des Schachbretts, auf dem zweiten Feld die doppelte Menge (also zwei Körner), auf dem dritten Feld wieder die doppelte Menge (also vier) und so weiter und so fort – bis alle 64 Felder voll sind. Der König machte sich über den Brahmanen lustig, doch das Lachen verging ihm, sobald ein Mathematiker die Reismenge berechnete: mehr als 18 Trillionen Körner. Würde man sie über Deutschland ausleeren, wäre das ganze Land mit einer 25 Zentimeter hohen Reisschicht bedeckt.
Ein weiteres Experiment zur Exponentialfunktion kann jeder zu Hause durchführen, indem er versucht, ein Blatt Papier von beliebiger Größe öfter als achtmal in der Mitte zu falten.
Kurz hat recht, exponentielles Wachstum ist nicht leicht vorstellbar. Und ein Virus macht das Ganze nicht einfacher. Denn zum einen kann es kein uneingeschränktes Wachstum geben, weil es nur eine begrenzte Zahl Menschen gibt, zum anderen gibt es Personen, die – zumindest in einem bestimmten Zeitraum – sich nicht infizieren können, weil sie das Virus schon hatten.
Seit 1927 ist in der Epidemiologie das SIR-Modell Standard. Dabei wird berechnet, wie sich drei Kurven zueinander verhalten: Es gibt Personen, die noch angesteckt werden können („susceptible“), solche, die infiziert sind („infected“), und solche, die immun oder verstorben sind („removed“). Heute wird meist das erweiterte SEIR-Modell angewandt, bei dem auch Personen berücksichtigt werden, die infiziert sind, aber nicht ansteckend („exposed“). Dass die Größen nicht einfach zu ermitteln sind, zeigt das Coronavirus. Es gibt etwa Infizierte, die noch keine Symptome haben und trotzdem ansteckend sind.
Was die Welt zu Beginn der jetzigen Pandemie erlebte, war ein klassisches Beispiel für exponentielles Wachstum. Das Coronavirus konnte sich ungehindert verbreiten. Am 12. März verdoppelte sich die Zahl der bestätigten Fälle in Österreich rasant, alle 2,34 Tage. Dem setzte der Lockdown ein Ende. Anfang des Sommers, als die Maßnahmen gelockert wurden, blieben die Zahlen stabil, erst seit einigen Wochen ist das exponentielle Wachstum wieder zu erkennen.
Kurz rechnete vor, dass bei der heutigen Entwicklung mit 6000 täglichen Neuinfektionen noch vor Weihnachten zu rechnen ist. Doch in Wirklichkeit könnten es – auch ohne schärfere Maßnahmen – deutlich mehr oder auch weniger Ansteckungen sein. Komplexitätsforscher Peter Klimek sagt im Gespräch mit der „Presse“, eine Prognose, die über eine oder maximal zwei Wochen hinausgeht, sei reine „Kaffeesudleserei“. Denn vieles könne man nicht vorhersagen. Wie gut können regionale Ausbrüche eingegrenzt werden? Oder: Wie viele soziale Kontakte hat jeder Einzelne von uns?
Prognosen als „Kaffeesudleserei“
Letztere Frage ist beim Coronavirus besonders wichtig, wie Klimeks Berechnungen zeigen. Er hat mit anderen Wissenschaftlern des Complexity Science Hub Vienna ein Modell entwickelt, das die KontaktnetzwerkDichte und ihre Auswirkungen untersucht. Das Ergebnis: Durch konsequentes Social Distancing und Kleinhalten des sozialen Netzwerks ist ein lineares Wachstum bei den Ansteckungen möglich. Etwas, was in Standardmodellen der Epidemiologie nicht vorkommt. Historische Pandemien verliefen in der Regel nämlich in Wellenbewegungen. Nach einer relativ langen Phase des linearen Wachstums hat sich nun auch beim Coronavirus das Blatt gewendet. Klimek erklärt: „Es gibt keinen graduellen Effekt, sondern einen Punkt, an dem es kippt.“Er veranschaulicht das anhand eines Beispiels: Wasser bleibt Wasser, egal ob bei 15 Grad oder bei fünf Grad, bei einer Temperatur von minus fünf Grad ändert sich dagegen alles, weil es gefriert. Im Coronavirus-Modell der Komplexitätsforscher bedeutet das: Egal ob Menschen ein coronarelevantes soziales Netzwerk von vier, fünf oder sechs Personen haben: Das Wachstum bleibt linear. Erreicht das Netzwerk eine Größe von mehr als sieben Personen, ist der Kipppunkt erreicht.
Diese Erkenntnis bedeutet nun leider nicht, dass Österreich die Kurve wieder flach macht, indem jeder jeden Abend mit denselben sechs Leuten am Stammtisch sitzt. Für solche Schlüsse ist das Modell viel zu ungenau. Denn es gibt „physischen Kontakt in unterschiedlichen Qualitäten“. Sprich: Es ist nicht egal, ob wir neben anderen in der U-Bahn sitzen oder mit ihnen in einem Chor singen. Diese zahlreichen feinen Unterschiede können in einem Modell nicht abgebildet werden. Am größten ist die Wahrscheinlichkeit, sich im eigenen Haushalt anzustecken. Dass derzeit viele Cluster im Familienbereich gemeldet werden, beruhigt Klimek nicht. Das bedeute nur, dass ein Teil der Infektionen nicht nachverfolgbar sei.
Wann sind nun aber schärfere Maßnahmen oder gar ein Lockdown nötig? Der Wissenschaftler antwortet mit einer Gegenfrage: „Was ist das Ziel? Wollen wir den Wintertourismus retten oder das Gesundheitssystem nicht überlasten?“In letzterem Fall sei die kritische Grenze grob geschätzt bei 5000 bis 7000 bestätigten Infektionen täglich. Wann genau es Probleme gibt, kommt auf die Gesundheitsinfrastruktur in stark betroffenen Regionen an, aber auch darauf, welche Gruppen sich infizieren. Senioren, medizinisches Personal oder hauptsächlich Jugendliche? Sorgen bereitet Klimek derzeit übrigens eher der ländliche Raum, in Wien sei die Situation „überraschend stabil“.