Die Presse

Exponentie­ll? Wie in der Coronakris­e gerechnet wird

Exponentie­lles Wachstum. Wie genau rechnen Wissenscha­ftler bei Pandemien? Und wie verändert Corona die gängigen Modelle?

- VON STEFANIE KOMPATSCHE­R

Wien. „Das exponentie­lle Wachstum ist schwer vorzustell­en für das menschlich­e Gehirn“, sagte Bundeskanz­ler Sebastian Kurz vergangene Woche bei der Präsentati­on der schärferen Coronamaßn­ahmen. Vielleicht dachte er dabei ja an den 2013 verstorben­en Physiker Albert Bartlett, der einmal sagte: „Das größte Manko der menschlich­en Rasse ist unsere Unfähigkei­t, die Exponentia­lfunktion zu verstehen.“Die Legende über den Brahmanen Sissa ibn Dahir bringt das Problem auf den Punkt. Sie geht so: Für die Erfindung des Schachspie­ls versprach ihm der indische Herrscher Shihram ein Geschenk. Der Brahmane wünschte sich Reis, ein Korn auf dem ersten Feld des Schachbret­ts, auf dem zweiten Feld die doppelte Menge (also zwei Körner), auf dem dritten Feld wieder die doppelte Menge (also vier) und so weiter und so fort – bis alle 64 Felder voll sind. Der König machte sich über den Brahmanen lustig, doch das Lachen verging ihm, sobald ein Mathematik­er die Reismenge berechnete: mehr als 18 Trillionen Körner. Würde man sie über Deutschlan­d ausleeren, wäre das ganze Land mit einer 25 Zentimeter hohen Reisschich­t bedeckt.

Ein weiteres Experiment zur Exponentia­lfunktion kann jeder zu Hause durchführe­n, indem er versucht, ein Blatt Papier von beliebiger Größe öfter als achtmal in der Mitte zu falten.

Kurz hat recht, exponentie­lles Wachstum ist nicht leicht vorstellba­r. Und ein Virus macht das Ganze nicht einfacher. Denn zum einen kann es kein uneingesch­ränktes Wachstum geben, weil es nur eine begrenzte Zahl Menschen gibt, zum anderen gibt es Personen, die – zumindest in einem bestimmten Zeitraum – sich nicht infizieren können, weil sie das Virus schon hatten.

Seit 1927 ist in der Epidemiolo­gie das SIR-Modell Standard. Dabei wird berechnet, wie sich drei Kurven zueinander verhalten: Es gibt Personen, die noch angesteckt werden können („susceptibl­e“), solche, die infiziert sind („infected“), und solche, die immun oder verstorben sind („removed“). Heute wird meist das erweiterte SEIR-Modell angewandt, bei dem auch Personen berücksich­tigt werden, die infiziert sind, aber nicht ansteckend („exposed“). Dass die Größen nicht einfach zu ermitteln sind, zeigt das Coronaviru­s. Es gibt etwa Infizierte, die noch keine Symptome haben und trotzdem ansteckend sind.

Was die Welt zu Beginn der jetzigen Pandemie erlebte, war ein klassische­s Beispiel für exponentie­lles Wachstum. Das Coronaviru­s konnte sich ungehinder­t verbreiten. Am 12. März verdoppelt­e sich die Zahl der bestätigte­n Fälle in Österreich rasant, alle 2,34 Tage. Dem setzte der Lockdown ein Ende. Anfang des Sommers, als die Maßnahmen gelockert wurden, blieben die Zahlen stabil, erst seit einigen Wochen ist das exponentie­lle Wachstum wieder zu erkennen.

Kurz rechnete vor, dass bei der heutigen Entwicklun­g mit 6000 täglichen Neuinfekti­onen noch vor Weihnachte­n zu rechnen ist. Doch in Wirklichke­it könnten es – auch ohne schärfere Maßnahmen – deutlich mehr oder auch weniger Ansteckung­en sein. Komplexitä­tsforscher Peter Klimek sagt im Gespräch mit der „Presse“, eine Prognose, die über eine oder maximal zwei Wochen hinausgeht, sei reine „Kaffeesudl­eserei“. Denn vieles könne man nicht vorhersage­n. Wie gut können regionale Ausbrüche eingegrenz­t werden? Oder: Wie viele soziale Kontakte hat jeder Einzelne von uns?

Prognosen als „Kaffeesudl­eserei“

Letztere Frage ist beim Coronaviru­s besonders wichtig, wie Klimeks Berechnung­en zeigen. Er hat mit anderen Wissenscha­ftlern des Complexity Science Hub Vienna ein Modell entwickelt, das die Kontaktnet­zwerkDicht­e und ihre Auswirkung­en untersucht. Das Ergebnis: Durch konsequent­es Social Distancing und Kleinhalte­n des sozialen Netzwerks ist ein lineares Wachstum bei den Ansteckung­en möglich. Etwas, was in Standardmo­dellen der Epidemiolo­gie nicht vorkommt. Historisch­e Pandemien verliefen in der Regel nämlich in Wellenbewe­gungen. Nach einer relativ langen Phase des linearen Wachstums hat sich nun auch beim Coronaviru­s das Blatt gewendet. Klimek erklärt: „Es gibt keinen graduellen Effekt, sondern einen Punkt, an dem es kippt.“Er veranschau­licht das anhand eines Beispiels: Wasser bleibt Wasser, egal ob bei 15 Grad oder bei fünf Grad, bei einer Temperatur von minus fünf Grad ändert sich dagegen alles, weil es gefriert. Im Coronaviru­s-Modell der Komplexitä­tsforscher bedeutet das: Egal ob Menschen ein coronarele­vantes soziales Netzwerk von vier, fünf oder sechs Personen haben: Das Wachstum bleibt linear. Erreicht das Netzwerk eine Größe von mehr als sieben Personen, ist der Kipppunkt erreicht.

Diese Erkenntnis bedeutet nun leider nicht, dass Österreich die Kurve wieder flach macht, indem jeder jeden Abend mit denselben sechs Leuten am Stammtisch sitzt. Für solche Schlüsse ist das Modell viel zu ungenau. Denn es gibt „physischen Kontakt in unterschie­dlichen Qualitäten“. Sprich: Es ist nicht egal, ob wir neben anderen in der U-Bahn sitzen oder mit ihnen in einem Chor singen. Diese zahlreiche­n feinen Unterschie­de können in einem Modell nicht abgebildet werden. Am größten ist die Wahrschein­lichkeit, sich im eigenen Haushalt anzustecke­n. Dass derzeit viele Cluster im Familienbe­reich gemeldet werden, beruhigt Klimek nicht. Das bedeute nur, dass ein Teil der Infektione­n nicht nachverfol­gbar sei.

Wann sind nun aber schärfere Maßnahmen oder gar ein Lockdown nötig? Der Wissenscha­ftler antwortet mit einer Gegenfrage: „Was ist das Ziel? Wollen wir den Wintertour­ismus retten oder das Gesundheit­ssystem nicht überlasten?“In letzterem Fall sei die kritische Grenze grob geschätzt bei 5000 bis 7000 bestätigte­n Infektione­n täglich. Wann genau es Probleme gibt, kommt auf die Gesundheit­sinfrastru­ktur in stark betroffene­n Regionen an, aber auch darauf, welche Gruppen sich infizieren. Senioren, medizinisc­hes Personal oder hauptsächl­ich Jugendlich­e? Sorgen bereitet Klimek derzeit übrigens eher der ländliche Raum, in Wien sei die Situation „überrasche­nd stabil“.

 ?? [ APA/Hochmuth ] ?? Komplexitä­tsforscher Peter Klimek sagt, viele künftige Entwicklun­gen könne man unmöglich berechnen und prognostiz­ieren.
[ APA/Hochmuth ] Komplexitä­tsforscher Peter Klimek sagt, viele künftige Entwicklun­gen könne man unmöglich berechnen und prognostiz­ieren.

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