Die Presse

Leitartike­l von Köksal Baltaci

Die meisten Cluster werden Haushalten zugeordnet. Aus einem banalen Grund – dort ist die rasche Ermittlung von Kontaktper­sonen am einfachste­n.

- E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

Manchmal

genügt es, genau hinzuhören. Der Großteil der Ansteckung­en, sagte Gesundheit­sminister Rudolf Anschober vor ein paar Tagen, erfolgt innerhalb des Familienve­rbands, bei Freizeitak­tivitäten und während der Arbeit. Nun, wo denn sonst? In diesen Bereichen spielt sich das Leben üblicherwe­ise ab.

Bewusst oder unbewusst räumte Anschober also mit dem Mythos auf, wonach Haushalte die mit Abstand häufigste Infektions­quelle ausmachen. Ein Mythos, der sich seit Monaten hält und in letzter Zeit wieder stärker befeuert wird – und zwar von allen Branchen und Bereichen, die nicht der Ursprung von Ausbrüchen, also Clustern, sein wollen. Von Schulen etwa, die der Wiener Bildungsdi­rektor, Heinrich Himmer, vergangene Woche als den „wahrschein­lich sichersten Ort“bezeichnet­e; von der Gastronomi­e, die sich gegen eine Vorverlegu­ng der Sperrstund­e wehrt; von der Hotellerie, der Reisebranc­he, den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln und Supermärkt­en. Nirgendwo steckt sich jemand an, zu Hause lauert die Gefahr.

Nur, wie kommt denn das Virus in die Familien? Irgendjema­nd muss es doch einschlepp­en. Und sich folglich zuvor infiziert haben – am Arbeitspla­tz zum Beispiel, in der U-Bahn, Schule, im Supermarkt, Restaurant oder Fitnessstu­dio. Orte, auf die sich Cluster selten zurückverf­olgen lassen, weswegen sie kaum als Quelle aufscheine­n.

Ein Beispiel: Sollte in einer Bar ein sogenannte­r Supersprea­der trotz Einhaltung der Verhaltens- und Hygienereg­eln zwei, drei Personen anstecken, die wiederum Familienmi­tglieder und Arbeitskol­legen infizieren, ist es sehr unwahrsche­inlich, dass diese Kette nach dem ersten positiven Test der Bar zugeordnet und der Patient null, auch Indexfall genannt, gefunden werden kann. Denn dazu müsste zunächst eine infizierte Person annehmen, in der Bar angesteckt worden zu sein oder von jemandem, der sich dort aufgehalte­n hat.

Danach würden im Zuge des Contact Tracing alle, die die Bar im fraglichen Zeitraum (der zwei bis drei Wochen zurücklieg­en kann) besucht haben, ausfindig gemacht und getestet werden. Selbst dann, wenn die Indexperso­n, beispielsw­eise ein Reiserückk­ehrer, ermittelt wird, sind die

Chancen groß, dass das Testergebn­is dann nicht mehr positiv ausfällt und somit der Ursprung des Ausbruchs unerkannt bleibt. Anders als in geschlosse­nen Kreisläufe­n wie eben Familien, deren Mitglieder zum Großteil bekannt sind und in denen die rasche Rückverfol­gung der Kontakte viel einfacher ist. Das ist der Hauptgrund dafür, dass den Untersuchu­ngen der Ages zufolge in der Kalenderwo­che 42 fast 60 Prozent der Cluster Haushalten zuzuordnen sind – ohne sagen zu können, wie es das Virus dorthin geschafft hat. Das und natürlich der Umstand, dass Übertragun­gen zu Hause nun einmal kaum zu vermeiden sind.

Der Anteil von 60 Prozent relativier­t sich im Übrigen schnell bei einem Blick auf die absoluten Zahlen der positiv Getesteten. Denn jene Fälle, die Haushalt-Clustern angehören, machen „nur“42 Prozent aller nachgewies­enen Infektione­n aus. Das entspricht im Schnitt 2,6 Personen pro Cluster, im Freizeitbe­reich und bei der Arbeit sind es jeweils vier Personen, im Gesundheit­s- und Sozialwese­n sogar 9,5. Und dabei wurde noch nicht einmal berücksich­tigt, dass 40 Prozent aller Infektione­n gar keiner Quelle zugeordnet werden können. Was im Umkehrschl­uss bedeutet, dass Familienve­rbände als Ursprung nicht infrage kommen, denn wären sie die Quelle, hätten sie die Behörden längst als solche definiert.

Haushalte als Ansteckung­sherde zu bezeichnen, gibt also ein verzerrtes Bild des Infektions­geschehens wieder. Und suggeriert zudem falsche Sicherheit, indem Übertragun­gen außerhalb der eigenen vier Wände als unwahrsche­inlich dargestell­t werden. Falsch deshalb, weil je häufiger Infektione­n Familien zugeordnet werden, desto seltener ist die tatsächlic­he Quelle bekannt – und desto unwirksame­r wird das Contact Tracing, das Vorarlberg und Tirol aus Kapazitäts­gründen schon einschränk­en mussten. Oder anders gesagt: Was von vielen Branchen als gute Nachricht verkauft wird, ist eigentlich die schlechte.

Mehr zum Thema: Seite 1 bis 4

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