Neue Affäre um Frontex
Migrationspolitik. Beamte der EU-Grenz- und Küstenwache sollen in der Ägäis Migranten mit Gewalt in Richtung Türkei abgedrängt haben.
Brüssel. Neue Recherchen der Investigativplattform Bellingcat stellen das Ziel der EU, ihre Grenzen mithilfe der gemeinsamen Grenz- und Küstenwache Frontex wirksam und menschenrechtskonform vor irregulärer Migration zu schützen, infrage. Anhand von Videoaufnahmen und Satellitenbildern werfen die Datenjournalisten von Bellingcat nämlich Frontex vor, gemeinsam mit der griechischen Küstenwache Migranten gewaltsam in türkische Hoheitsgewässer abzudrängen, um sie daran zu hindern, auf EUBoden Asyl zu beantragen.
Das nennt man im Völkerrecht „refoule-´ ment“, und es ist illegal. Abgesehen davon hätten die Besatzungen der beteiligten Frontex-Schiffe auch die nach Seerecht bestehende Pflicht gehabt, die Migranten von ihren überladenen und nicht mehr seetüchtigen Schlauchbooten zu bergen. Sechs Fälle, die sich seit April in der östlichen Ägäis ereignet haben, konnte Bellingcat identifizieren. Auch für die Regierungen von Portugal und Rumänien ist diese Angelegenheit heikel, denn Schiffe ihrer Küstenwachen nahmen im Zuge ihrer Entsendung in den Dienst von Frontex an diesen Abdrängungen teil.
Kommission „tief besorgt“und tatenlos
Die Europäische Kommission zeigte sich angesichts der Veröffentlichung dieser Recherchen im „Spiegel“, der ARD und einer japanischen Zeitung „tief besorgt“, wie ein Sprecher am Montag betonte. Die Kommissarin für Inneres, Schwedens frühere Innenministerin Ylva Johansson, sagte am Dienstag im Deutschlandfunk, sollten sich diese Recherchen bewahrheiten, wäre das „vollkommen inakzeptabel“. Fabrice Leggeri, der FrontexDirektor, müsse „die volle Verantwortung übernehmen, in diesen Fällen ermitteln und eine Antwort dazu präsentieren, was wirklich passiert ist“.
Dessen Ermittlungseifer ist vorerst begrenzt. „Bisher wurden keine Dokumente oder andere Materialien gefunden, die auch nur irgendeinen Vorwurf der Verletzung der Vorschriften oder des Verhaltenskodex durch entsendete Beamte erhärten würden“, teilte Frontex am Dienstag mit.
An dieser Causa veranschaulicht sich erneut das Problem der mangelnden politischen und öffentlichen Kontrolle der mittlerweile mehr als drei Dutzend EU-Agenturen. Die Kommission erklärt sich für nicht zuständig, Frontex Weisungen zu erteilen. Im Aufsichtsrat der Agentur sitzen wiederum Vertreter der nationalen Regierungen, die im Falle der Bestätigung der Missbräuche auch automatisch ihre eigenen Küstenwachebeamten beschuldigen müssten.
Wenig hilfreich ist es in der Klärung dieser Angelegenheit, dass der gemeinsam mit Johansson für die Reform der Asyl- und Migrationspolitik zuständige Vizepräsident der Kommission, der Grieche Margaritis Schinas, seit Dienstag nach einem positiven Covid-19-Test in Quarantäne ist und somit vorerst nur eingeschränkt arbeiten kann. (GO)