Die Presse

Wir sollten auch eigenen Erinnerung­en misstrauen

Der große Kulturhist­oriker Friedrich Heer hat offenbar in seine Selbstdars­tellung auch Imaginiert­es verwoben. Was können wir daraus lernen? Wie viel Fantasie fließt in das ein, was wir „selbst erlebt“haben?

- E-Mails an: kurt.scholz@me.com VON KURT SCHOLZ

Das ehemalige Bezirksger­icht in meinem Heimatort ist ein imposantes Gebäude. Während des Ersten Weltkriegs amtierte hier ein katholisch­er Richter. Seine ältere Tochter studierte in Wien. Dort ging sie mit ihrem Vater, einem Alten Herrn, im Jänner 1938 auf einen CVBall, wo sich ein Tänzer in sie verliebte. Wenig später wurde Verlobung gefeiert. Sie hielt bis in die Kriegsjahr­e. Der Verlobte war Friedrich Heer.

Damit beginnt die Geschichte, die ich erzählen will. Heer war nämlich in den 1960er- und 1970er-Jahren eine bewunderte Persönlich­keit. Patriot, kritischer Katholik, Kämpfer für Österreich im März 1938, Gründer einer Widerstand­sgruppe, unermüdlic­her Publizist, überzeugte­r Europäer, flammender Redner, als Zeitzeuge omnipräsen­t. Bücher wie „Der Glaube des Adolf Hitler“oder „Gottes erste Liebe“sind bis heute lesenswert.

Weil auch ich Friedrich Heer bewunderte, traf mich die Lektüre eines 1600-seitigen Forschungs­berichts umso mehr. Man kann ihn auf der Webseite der Österreich­ischen Forschungs­gemeinscha­ft lesen (Adolf Gaisbauer: „Da ich nur darauf angelegt war, Friedrich Heer zu werden“, 2010). Kurz: Friedrich Heer, der so überzeugen­d seine sechs Verhaftung­en, die Folterung, seine Überstellu­ng in das Reichssich­erheitshau­ptamt der

SS in Berlin, die enge Freundscha­ft zu Hingericht­eten, seine Kriegsjahr­e an der Ostfront und bei der Invasion der Alliierten geschilder­t hatte, verwob offenbar Erinnerung­ssplitter, Berichte von Freunden und Imaginiert­es zu einer Selbstdars­tellung, die wesentlich von der Realität abweicht.

Böswillige mögen von „Täuschung“reden, mich bewegt eine andere Frage: Wie viel von dem, was wir „selbst erlebt“, „mit eigenen Augen gesehen haben“, ist real so geschehen und wie viel ist „Erinnerung­swirklichk­eit“, in die Fantasie, Selbstdars­tellung, Eitelkeit und der Wunsch, Eindruck zu erwecken, einfließen? Berichten wir, wenn wir von uns reden, immer nur überprüfba­re Tatsachen? Oliver Sacks, Schriftste­ller und als Psychiater ein scharfer Beobachter, hat in seiner Autobiogra­fie die präzisen Kindheitse­rinnerunge­n an zwei deutsche Raketenang­riffe 1940/41 auf London wiedergege­ben. Nach der Publikatio­n machte ihn sein fünf Jahre älterer Bruder darauf aufmerksam, dass er zwar den ersten „Blitz“tatsächlic­h erlebt habe, den zweiten Angriff aber nie gesehen habe, weil er schon aufs Land verschickt worden war. Sacks arbeitete diese Erinnerung­stäuschung in „On Memory“auf. Nehmen wir Friedrich Heers biografisc­he Erfindunge­n zum Anlass, um auch eigenen Erinnerung­en gegenüber misstrauis­ch zu sein. Nestroys Satz „Es ist kaum zu glauben, was jeder Mensch glaubt, was er für ein Mensch ist“, gilt nicht nur für andere, sondern auch für uns selbst.

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