Europa im Meer von Krisen
Gastkommentar. In der europäischen Nachbarschaft häufen sich die Konflikte. Die EU kann nur versuchen, den Status quo zu erhalten.
Das einzig Stabile im europäischen Umfeld scheint die Instabilität zu sein. In Mali, Libanon, Libyen, Belarus und im Transkaukasus sind aktuell schon lang schwelende Konflikte erneut aufgebrochen. Ganz verschwunden waren diese Konflikte nie. Vielmehr wurde ihnen angesichts anderer Herausforderungen nur weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Auch wenn jeder Konflikt einen ihm eigenen Anlass und Verlauf hat und ein maßgeschneidertes Krisenmanagement erfordert, können aus analytischer Sicht einige Gemeinsamkeiten identifiziert werden: In vielen Fällen versucht man sich einer schlechten Regierungsführung durch Putsch, öffentlichen Protest oder Bürgerkrieg zu entledigen.
Schwieriger als eine alte Regierung loszuwerden ist es jedoch, eine allgemein anerkannte demokratisch legitimierte Regierung zu etablieren, die die Erwartungshaltung der Menschen nach Wohlstand und Sicherheit erfüllt. Eine Regierung, die „inklusive Institutionen“aufbaut und Rechtsstaatlichkeit garantiert, anstatt sich immer wieder auf Kosten der Bevölkerung selbst zu bereichern und ihre Klientel zu versorgen. Man sollte sich darauf einstellen, dass weitere neue Konflikte ausbrechen, ohne dass die bereits bestehenden nachhaltig gelöst werden konnten. Damit wird die Liste der Herausforderungen immer länger und der Berg der zu lösenden Sicherheitsaufgaben immer größer.
Rückzug des „Weltpolizisten“
Infolge struktureller Sicherheitstrends wird sich an dieser Entwicklung so schnell auch nichts ändern. Denn mit dem Rückzug der USA als „Weltpolizist“löst sich der globale Ordnungsrahmen auf, und eine neue globale Ordnungsmacht ist nicht in Sicht.
Rivalisierende Interessen von Regionalmächten befeuern die Konflikte oft von außen, anstatt sie einzudämmen. Und globale Trends wie Klimawandel, Demografie und sozioökonomische Verwerfungen lassen eine weitere Verschärfung der Konflikte in und um Europa erwarten. Dazu kommen immer wieder divergierende Interessen auch innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft, wodurch ein starkes und strategisch geleitetes internationales Krisenmanagement behindert wird.
Die EU ist von den Auswirkungen dieser Konflikte unmittelbar und mehr betroffen als etwa die
USA, die sich in den Krisen im Vorhof Europas unabhängig vom Ausgang der Präsidentschaftswahl nur im Ausnahmefall engagieren werden. Gleichzeitig hat die EU noch nicht jene sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit entwickeln können, die sie in die Lage versetzt, als starker und geschlossener Akteur aufzutreten.
Dazu kommt, dass die EU aufgrund der negativen wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 künftig auch weniger finanzielle Mittel zur Verfügung haben wird, um den problematischen Akteuren im europäischen Umfeld die Gewaltoption „abzukaufen“und sich dadurch Zeit für politische Lösungen zu geben. Damit bleibt bis auf Weiteres wohl nur der Weg, durch reaktives und punktuelles Krisenmanagement den Status quo bestmöglich zu erhalten und zumindest massive Konfliktausweitungen zu verhindern. Wenngleich aus analytischer Sicht klar ist, dass das keine langfristig erfolgversprechende und nachhaltige Strategie für Europas Sicherheit sein kann.
Generalmajor Johann Frank (* 1969 in Leoben) ist seit April 2020 Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der Landesverteidigungsakademie, Wien.